Diorama

Resignation trifft auf Erlösung

14.11.2020 - Seit sage und schreibe 24 Jahren wandeln Mastermind Torben Wendt und seine Mitstreiter ein einzigartiges Wechselspiel der Gefühle in Worte und Töne um. In stets filigran und doch kraftvoll wirkenden Songs treffen Verzweiflung und Hoffnung aufeinander und das neueste Werk "Tiny missing fragments" setzt diese Entwicklung auf beeindruckende Weise fort. Electro-Wave par excellence! Von: Torsten Pape

Image Defragmentierung abgeschlossen? (Foto: Promo)

BODYSTYLER: Bei Eurem tollen Livestream-Konzert im Frühjahr habt Ihr bereits das neue Album für den Herbst angekündigt und den neuen Track "Gasoline" vorgestellt. Lässt die termingerechte VÖ darauf schließen, dass Ihr Eure Planung (trotz der recht speziell ausgeprägten Maskenvorliebe...) gut umsetzen konntet oder galt es mehr als gewöhnlich Stolpersteine zu umschiffen? Was wäre ohne Corona anders gelaufen?

TORBEN WENDT: Ohne Corona wäre das Album vermutlich ein paar Monate früher erschienen und wir hätten im Oktober/November-Zeitraum eine Tournee gespielt. Also nein, das Thema hat uns, neben den privaten Baustellen, auch musikalisch durcheinander gerüttelt.

BODYSTYLER: Das Album wird mit dem Slogan "Desperation meets comfort" beworben. Der gestandene Diorama-Fan wird hier sicherlich sofort andocken können, bei allen anderen könnte damit zumindest Interesse geweckt werden. Wie kam es zu dieser Beschreibung und wie würdet Ihr sie mit dem generellen Bandgefühl (der Bandphilosophie?) verknüpfen?

TORBEN WENDT: Das ist im Hinblick auf die generelle Diorama-Philosophie sicher kein Paradigmenwechsel. Aber: Bei "Tiny missing fragments" begegnen sich die beiden Seiten der Medaille, also wenn man so will die resignierende und die erlösende, derart auf Augenhöhe - nicht nur über das Album hinweg, sondern auch innerhalb einzelner Tracks wie z. B. „irreversible“ - dass sich der Claim besonders richtig anfühlt.

BODYSTYLER: Ich muss gestehen, dass ich auf dem Cover zunächst nur einen Sternenhimmel, dann mit Verzögerung Euer Logo und viel später erst die Zahlen, Kreuze und Pfeile erkannt habe. Was könnt Ihr zum sehr gelungenen Sociogram-Artwork erzählen? Wie seid Ihr in Kontakt mit dem Künstler gekommen? Bonusfrage: Wie ist eigentlich der neue Schriftzug entstanden?

TORBEN WENDT: Den Kontakt zum niederländischen Künstler Faizki habe ich aufgenommen, da ich finde, dass seine Sociogram-Serie (die Zahlen, Kreuze und Pfeile) die in der Zerrissenheit Harmonie suchende Stimmung der Songs extrem gut reflektiert. Ich wollte diese Zusammenarbeit unbedingt. Witzig war, wie schnell wir nach dem Hallo sagen eine gemeinsame Wellenlänge gefunden haben. Er konnte durchaus auch die Verbindung der Musik zu seinen Werken erkennen und war sogar so inspiriert, dass er extra für diorama drei Arbeiten entworfen hat, die nun den Grundstock der Grafiken bilden. Zur Bonusfrage: Ein Zufallsfund in der spanischen Stadt Pals. Dort prangt in einem Hinterhof ein metallenes Emblem mit dem Wort „Diorama“ an der Wand und wirft einen Schatten, den ich abfotografiert habe und der nun zum Logo-Schriftzug geworden ist.

"Irgendwann musste er dann raus, dieser Schrei wider die „Schöne neue Welt“."

BODYSTYLER: Einmal mehr fällt bei den Songs die enorme Detailverliebtheit in Sachen Produktion und Klangvielfalt auf. Wie behaltet Ihr bei all diesen Facetten den Überblick und gab es Situationen, in denen Ihr Euch diesbezüglich auch mal verzettelt habt? Reguliert Ihr das Verhältnis zwischen notwendiger Geradlinigkeit und spannender Komplexität selbst oder gibt es trotz fehlendem Produzenten externe Kontrollinstanzen?

TORBEN WENDT: Nein, wir sind das in einem. Komponisten, Künstler und Kontrolleure. In der Vergangenheit hat Felix oft die entscheidende Dosis Disziplin reingebracht, bei "Tiny missing fragments" waren wir beide eher anarcho-mäßig unterwegs. Natürlich ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten, die Arrangements flüssig, stimmig, interessant, nicht zu anstrengend und songdienlich zu gestalten und trotzdem das kreative Momentum auszuleben. Aber das ist ja genau unser Job. Und wenn es einfach wäre, würde es jeder machen. Das gilt nicht nur für Dieter Bohlen.

BODYSTYLER: Beim Album "Even the devil..." sprachst Du, Torben, von den Songs als Message-Songs, da sie sehr lange Texte hatten. Bei "Zero soldier army" und auch auf "Tiny missing fragments" wirken die Lyrics nun wieder etwas kompakter. Wie würdest Du die Art der Texte aktuell bezeichnen?

TORBEN WENDT: Die meisten Texte sind bei diesem Album parallel, also einigermaßen zeitgleich zur Musik, entstanden. Bei einer Hook wie dem von Felix verfassten „you gasoline, i turpentine“ ist das direkt gemeinsam da und funktioniert auch auf Anhieb. Generell sind die "TMF"-Texte mehr Gedicht als Message und dadurch in gewisser Weise schon komprimiert, weniger ausschweifend.

BODYSTYLER: "History is not repeating, at least not in the life we´re leading" (aus "horizons") - diese Zeilen lassen viel Raum für Spekulationen. Es gibt ja die Theorien, dass sich die geschichtlichen Ereignisse wiederholen, was ihr auch nicht komplett ausschließt. Warum sind sie jedoch nicht für einen Menschen in dessen Lebenszeit nachvollziehbar/erlebbar?

TORBEN WENDT: Auf den Song bezogen: Es gibt keine höhere Zusage, dass vergebene Möglichkeiten wiederkommen. Im Gegenteil, man müsste schon darauf hinwirken, sich kümmern, kämpfen, wie auch immer. Oder wenn man es nicht tut damit leben, bestimmten Dingen Lebewohl zu sagen. Hinter dem Horizont - oder in einer Back to the future Zeitschleife - mag es weitergehen, aber halt nicht für einen selbst. Und das ist ok. Historisch betrachtet ist die Feststellung, dass sich Geschichte wiederholt, richtig, aber nicht besonders originell. Es wäre überraschend, wenn Menschen immer wieder etwas völlig Neues machen würden.

BODYSTYLER: In Zeiten von Corona haben sicherlich viele Menschen wieder mehr Zeit für das Lesen gehabt. Gibt es Bücher, die Du in diesem Jahr (wieder-)entdeckt hast und empfehlen möchtest?

TORBEN WENDT: Bei mir standen dieses Jahr das neue diorama-Album und die damit verbundenen Aktivitäten auf diversen Ebenen sehr stark im Vordergrund. In der restlichen ereignisärmenen Zeit habe ich eher andere Sachen gemacht als Lesen. Radfahren, Tischtennis im Wohnzimmer mit den Kids, Netflix, Keller aufräumen. Aktuell lese ich das neue Fitzek-Buch, bislang finde ich es klasse.

"Wenn es einfach wäre, würde es jeder machen. Das gilt nicht nur für Dieter Bohlen."

BODYSTYLER: "Not to cheat is the real cheating" (aus "horizons") - mögt Ihr diese spannende Aussage evtl. ein wenig erklären?

TORBEN WENDT: Naja, man kann anderen untreu werden, aber auch sich selbst.

BODYSTYLER: "iisland" ist aktuell mein absoluter Lieblingstrack. Könnt Ihr vielleicht ein wenig über die Entstehung und die Hintergründe erzählen?

TORBEN WENDT: „iisland“ ist auf jeden Fall der Track, bei dem die GEMA zehntausendmal nachgefragt hat, ob da nicht ein Schreibfehler vorliegt. (lacht) Das war ein recht früher Song, den wir im Laufe der Jahre immer wieder überarbeitet und mit neuen Einflüssen versehen haben. Ich glaube, es gibt über 20 Zwischenversionen. Und irgendwann musste er dann raus, dieser Schrei wider die „Schöne neue Welt“.

BODYSTYLER: Am Ende des Booklets findet man die Zeilen "Go away, they say / go away go away / you bring misfortune / you know how it is / when the scam blows up / somebody will have to take the blame". Warum war es Euch wichtig, mit diesen Worten das Album zu beschließen und was verbindet Ihr mit dieser Aussage?

TORBEN WENDT: Die Passage hat sich irgendwie dazu gemogelt, so als ob noch nicht alles gesagt war. (lacht) Eingefallen ist mir das ganze beim Beobachten eines Kolkrabens in der Gegend von Sulden im Vinschgau. Insofern verbinde ich in erster Linie diese Erinnerung damit.

BODYSTYLER: Leider musste Eure geplante Tour wie so viele andere ausfallen und bis dato sind nur wenige Gigs für 2021 angesetzt. Wie blickt Ihr auf die Zeit nach Corona, in der sicherlich viele Bands das Versäumte nachholen wollen? Wird es zu einem Overkill an Konzertangeboten kommen und werden dadurch vielleicht nicht mehr so viele Konzerte ausverkauft sein, da sich die Leute das vielleicht gar nicht mehr so oft leisten können?

TORBEN WENDT: Es ist mit einem immensen Wettbewerb um verfügbare Konzertslots zu rechnen. Zumal viele Clubs und Veranstaltungshäuser erstmal wieder auf die Beine kommen müssen, was die Kapazitäten zusätzlich verknappt. Für viele im Veranstaltungsbereich, unsere Crew und uns eingeschlossen, geht es um existenzielle Fragen. Einfache Lösungen dafür sehe ich nicht. Am langen Ende wünsche ich mir deshalb ernsthafte Auseinandersetzungen mit Fragen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen. Aber die nächsten Monate müssen wir da irgendwie gemeinsam durch, was für mich erstmal heißt: Tischtennis, Fitzek, Happy New Year.

BODYSTYLER: Vielen Dank und alles Gute!