Beborn Beton

Hunger nach Leben

17.04.2023 - Mittlerweile darf man Beborn Beton zweifelsfrei als deutsche Synth-Pop-Institution bezeichnen. Sieben Alben in über 30 Jahren Bandgeschichte verdeutlichen eindrucksvoll das Motto "Klasse statt Masse". Auf dem neuesten Streich "Darkness falls again" werden vom Trio einmal mehr tiefgründige, vielschichtige und melodiöse Tracks geboten. Sänger Stefan Netschio nahm sich die Zeit für ein Gespräch. Von: Torsten Pape

Image Weiter bergauf mit dem Synth-Pop-Treppenlift... (Foto: Chris Ruiz)

BODYSTYLER: Zunächst einmal: Schön, dass Ihr wieder am Start seid! Zwischen den letzten beiden Alben lagen ganze sechzehn Jahre, jetzt sind es nur noch halb so viele. Warum habt Ihr Euch solchen Stress gemacht? (zwinkert)

STEFAN NETSCHIO: Dazu möchte ich ein wenig mehr ausholen. Die Produktion des Albums “Fake” Ende der Neunziger war damals so etwas wie eine traumatische Erfahrung. Wir wollten eigentlich wieder mit José Alvarez-Brill zusammenarbeiten, mit dem wir die Alben “Nightfall” und “Truth” produziert hatten, aber aus verschiedenen Gründen kam diese Zusammenarbeit nicht zustande. Wir brachen angefangene Aufnahmesessions ab, richteten uns ein eigenes Studio ein und fingen nochmal von vorn an. Das Endergebnis konnte sich zwar hören lassen, aber der Weg dorthin war sehr beschwerlich und erschöpfend. Wir gönnten uns also eine kreative Pause und schrieben dann in aller Ruhe die Songs zu “A Worthy Compensation”. Da wir wieder mit einem Produzenten zusammenarbeiten wollten, streckten wir unsere Fühler aus, um nach der geeigneten Person Ausschau zu halten. Mit Olaf Wollschläger war dann irgendwann die perfekte Besetzung für den Job gefunden. Irgendwann kam der Kontakt zu Dependent Records zustande und das Paket war geschnürt.
Dieses ganze Drumherum mit Produzenten- und Labelsuche hatten wir bei der neuen Platte nicht mehr. Wir befanden uns in einer funktionierenden Infrastruktur und mussten “nur” ein Album schreiben. Wir befürchteten jedoch, dass wir unserem Publikum nichts mehr zu sagen hatten, aber dann veränderte sich die Welt recht schnell in eine Richtung, die Themen am Fließband hervorbrachte: Sexuelle Orientierung und Identifizierung, freie Liebe, Enthüllungen von Fällen sexuellen Missbrauchs, Gewalt gegen farbige Menschen, Klimawandel und Verschwörungstheorien. Nicht nur die politischen Verhältnisse änderten sich, sondern auch das Bewusstsein für lange bestehende Missstände und Vergehen. Menschen wurden gehört, Grundrechte nichtsdestotrotz kontrovers diskutiert. Und im Mittelpunkt dieses Szenarios stand eine Person, die Werte und Moral mit Füßen trat. Zur Apokalypse fehlte nur noch eine Pandemie mit verheerenden Folgen für die Menschheit und ein Krieg innerhalb Europas als Sahnehäubchen.
Wir wären wahrscheinlich schneller mit der Platte fertig gewesen, wenn besagte Pandemie uns nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Lockdowns sorgten für Verzögerungen in der Produktion der Songs und die Verknappung von Rohstoffen für eine Reduzierung der Kapazitäten der Presswerke.
So hat es dann letztendlich doch noch acht Jahre gedauert. Anscheinend hat ein großer Teil der Welt aber auf dieses Album gewartet, denn die Resonanz ist überwältigend.

BODYSTYLER: Gab es Songs, die ihr Erscheinungsbild über die Monate (Jahre?) deutlich verändert haben?

STEFAN NETSCHIO: In Ihrer Grundsubstanz haben sich die Songs nicht besonders verändert. Ziel der Produktion im Studio ist es ja gerade, das Erscheinungsbild zu formen und so ändern sich die meisten Songs innerhalb der Studiozeit schon recht deutlich. Der Trick besteht darin, zur richtigen Zeit aufzuhören und zu wissen, wann der Song seine endgültige Darreichungsform erreicht hat. Ich glaube, wir haben mit Olaf wieder das Optimum aus den Stücken herausgeholt. Wir sind da mit ihm auf einer Linie und gehen geschmacklich sehr konform. Er weiß genau, wie Beborn Beton in 2023 klingen wollen.

BODYSTYLER: Ihr habt in den letzten Wochen drei Singles und zwei Videos (drei Videos, wenn man die Remix-Version von "Dancer In The Dark" mitzählt...) veröffentlicht. Das entspricht dem aktuellen Trend, relativ viel Material im Vorfeld einer Album VÖ zugänglich zu machen. Warum hat diese Strategie für Euch Sinn ergeben?

STEFAN NETSCHIO: Das Musikbusiness ist sehr schnelllebig und vielfältig geworden. Jeden Tag veröffentlicht eine Fülle an Bands neue Songs und Alben. Wenn du da längere Zeit nicht präsent bist, hast du schnell die Aufmerksamkeit deines Zielpublikums verloren. Wir hatten bis zum Veröffentlichungstermin ca. drei Monate Zeit, die Leute von der Qualität unseres Albums zu überzeugen und sie auf die Platte neugierig zu machen. Wir haben also jeden Monat eine Single veröffentlicht, zwei davon mit Video. Wenn man das mit früher vergleicht, ist das eine wahnsinnige Geschwindigkeit. Aber selbst renommierte Acts legen eine sehr hohe Schlagzahl vor. Für uns war das eine sehr arbeitsintensive, aber auch sehr aufregende Zeit. Allein, um in den Sozialen Medien eine gewisse Reichweite aufrechtzuerhalten, musst du deine Gefolgschaft regelmäßig mit Neuigkeiten und Gimmicks bespielen. Und unter dem Strich haben wir unser Ziel weit übertroffen. Wir hätten nicht ansatzweise damit gerechnet, in die Offiziellen Deutschen Album Charts einzusteigen. Wir sind mehr als stolz und glücklich, dass das Album so viele Menschen erreicht hat und so viele Gefallen daran gefunden haben.

BODYSTYLER: Bei einem Songtitel wie "Trockenfallen lassen" kommt man nicht umhin, ihn zu hinterfragen. Wie ist dieser äußerst poetische Text entstanden?

STEFAN NETSCHIO: Bei einer Unterhaltung bei ein paar Bieren ist das Thema aufgekommen. Die Faszination, sich mit einem Boot raus aufs Meer treiben zu lassen und dann mit der Ebbe auf Grund zu laufen. Mit dem Effekt, ganz allein weit draußen, weg vom Lärm der Zivilisation, einfach nur die Geräusche der dich umgebenden Natur wahrzunehmen. Sowas wie Detox für die Sinne. Das war das Szenario, in welchem sich dann der Song entwickelt hat. Zurückzublicken auf ein lautes, erfülltes Leben. Allein zurückgeblieben mit dem Verlust des geliebten Menschen, der dich ein Leben lang begleitet hat. Zu wissen, wann genug ist. Die eigene Vergänglichkeit wird mit fortschreitendem Alter immer präsenter. Zu wissen, dass du die erste Hälfte deines Lebens bereits hinter dir gelassen hast. Im Kopf immer noch zu jung, um den kommenden Verfall des eigenen Körpers zu akzeptieren. Sicher zu sein, dass die dir bleibende Zeit nicht ausreichen wird, deinen Hunger nach Leben und Neuem zu stillen.

BODYSTYLER: In "I Watch My Life On TV" und "I Hope You're Not Easily Scared" verwendet Ihr Sounds, die an die Frühwerke von Depeche Mode denken lassen. Stammen diese aus Originalgeräten oder einer entsprechenden Software? Bonusfrage: Wie gefallen Euch die beiden aktuellen Vorab-Singles von Depeche Mode und was erwartet Ihr von ihrem neuen Album?

STEFAN NETSCHIO: Die Mischung macht's. Wir verwenden sowohl vintage und moderne, analoge Hardware-Synthesizer als auch diverse Software-Emulationen. Mit Software ist heutzutage nahezu alles möglich und die klanglichen Unterschiede sind marginal. Und wenn sie dann in eine Produktion eingebettet sind, will ich mal behaupten, dass man den Unterschied nicht erkennt. Aber das haptische Erlebnis, durch Drehen von Knöpfen und Bewegen von Fadern in Echtzeit in die Klangformung einzugreifen, ist schon ein besonderer Spaß. Und Spaß an der Sache ist ja die Haupttriebfeder beim Musizieren. Da entstehen beim Experimentieren meist unvorhergesehene Effekte, die der ganzen Produktion das gewisse Etwas geben und ihr erst Leben einhauchen.
Zu den Depeche Mode Songs: Ich muss gestehen, dass mich beide Songs spontan nicht berührt haben. Nach und nach konnte ich Gefallen an “Ghosts Again” finden und auch “The Cosmos Is Mine” hat sich mir erst spät eröffnet. Vom Album habe ich nichts erwartet und auch wenn ich die Musik und die Produktion sehr gut finde, kommen die Songs und die Gesangsmelodien nicht so richtig an mich heran. Der Sound ist sehr offen und vielschichtig und unbestritten ist das Album in diesem Punkt das beste seit langem. Aber das, was Martin und Dave da ins Mikro trällern, berührt mich noch nicht wirklich. Aber ich habe das Album natürlich gekauft und werde daran arbeiten.

BODYSTYLER: Der Text von "Electricity" scheint sehr vielschichtig und tiefsinnig zu sein. Magst Du einen kleinen Einblick in seine Entstehung und die Hintergründe geben?geben

STEFAN NETSCHIO: Der Text ist an den gleichnamigen Film mit Agyness Deyn angelehnt, der wiederum eine Adaption des Romans von Ray Robinson aus dem Jahr 2006 ist. Die an Epilepsie leidende Hauptdarstellerin begibt sich auf die Suche nach ihrem tot geglaubten Bruder und erfährt dabei durch ihre Epilepsie induzierte halluzinative Episoden.

BODYSTYLER: "Burning Gasoline" verstehe ich als politisches Statement, welches nicht mit Sarkasmus geizt. Gott ist tot und wir verbrennen wertvolle Rohstoffe. Ist diese Deutung richtig und an wen ist dieser Songtext gerichtet?

STEFAN NETSCHIO: In “Burning Gasoline” geht es um die sorglose Ausbeutung der Ressourcen des Planeten auf Kosten nachfolgender Generationen. Der Klimawandel ist eine Realität und manifestiert durch zahlreiche Katastrophen. Wenn wir nicht zu einer Umkehr von fossilen Brennstoffen zu nachhaltigen Energiequellen in der Lage sind, werden unsere Kinder den Preis zahlen. Ok, meine Kinder sind’s nicht, aber der Punkt dürfte klar sein. An wen richtet sich der Text? Die Leugner des Klimawandels dürfte der Song wahrscheinlich nicht kratzen, von daher ist er an alle, inklusive uns selbst gerichtet. Wenn Lobbyisten und Politiker nicht willens sind, etwas zu ändern, dann liegt es an jedem Einzelnen.

BODYSTYLER: Auf der Artbook Edition gibt es zwei weitere neue Songs zu hören. "Religion" benutzt Gospel-Elemente, um gewisse Missstände zu hinterfragen und in "The Day Before Everything Breaks Apart" scheint jemand an seinem persönlichen (Gott gegebenen?) Schicksal zu verzweifeln. Was könnt Ihr über diese beiden spannenden Tracks erzählen?

STEFAN NETSCHIO: Gospel? Wow! Der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen. Aber der Text von “Religion” dürfte eigentlich keine Zweifel am Inhalt des Songs aufkommen lassen. Und zwar geht es um das radikale Ausleben von Religion, um Glaubenskriege, die immer noch an der Tagesordnung sind. Wie viele Millionen Menschen müssen noch im Namen eines Gottes sterben? Wie viele Jahrzehnte wird es dauern, bis der religiöse Fanatismus der Vergangenheit angehört?
"The Day Before Everything Breaks Apart" thematisiert einmal mehr die Auswirkungen des Klimawandels und wie wir mit der Situation umgehen. Wir werden uns eines Tages für unsere Taten bzw. unsere Untätigkeit verantworten müssen. Wie wollen wir in die Geschichte eingehen? Als die Generation, die es für das Fortbestehen der Menschheit versaut hat? Oder werden wir diejenigen sein, die das Ruder herumgerissen haben, damit nachfolgende Generationen in eine lebenswerte Zukunft blicken können?

BODYSTYLER: Außerdem befindet sich im Bonusteil ein Remix-Paket mit sechs Bearbeitungen von vier Albumtracks. Wie seid Ihr in Kontakt mit den Bands gekommen und wird es im Gegenzug Remixe von Euch geben?

STEFAN NETSCHIO: Wenn man, wie wir, mittlerweile 34 Jahre musikmäßig unterwegs ist, lernt man zwangsläufig Leute kennen bzw. man ist so bekannt, dass es leicht ist, mit anderen interessanten Leuten ins Gespräch zu kommen. Man könnte auch sagen: Unser Legendenstatus öffnet uns Türen und Herzen gleichgesinnter Musiker. Auf The New Division und Man Without Country bin ich durch meine Frau vor mehr als 10 Jahren aufmerksam geworden und seitdem Fan. Piston Damp ist das Projekt von Jonas Groth, mit dessen Bruder Stephan uns eine langjährige Freundschaft verbindet. Sydney Valette und Unify Separate wurden uns von unserem Grafiker und Musik-Aficionado Volker Maass empfohlen, der seinerseits das Radio Programm "Operating/Generating" betreibt.
Im Moment arbeite ich tatsächlich gerade an einem Remix für Unify Separate.

BODYSTYLER: Leider habe ich das neue Artwork noch nicht in Gänze bewundern können. Zunächst würde mich interessieren, was das für ein Asteroid der modernen Kunst auf dem Frontcover ist?

STEFAN NETSCHIO: Dieser Asteroid, wie Du ihn nennst, symbolisiert die Bedrohung, mit der sich die Menschheit konfrontiert sieht. Wobei wir das nicht an einem Objekt festmachen. Das kann für die einen der unheilbringende Asteroid sein, der sich auf die Erde zubewegt, wie bereits in vielen Filmen thematisiert. Es kann aber auch alles verschlingende Antimaterie sein oder eine Entität aus einer fremden Galaxie, die die Menschheit bedroht. Oder möglicherweise das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Experiments. In einem unserer Lieblingscomics “Watchmen” gaukelt ein genialer reicher Geschäftsmann einer sich am Abgrund befindenden Menschheit einen Angriff eines außerirdischen Wesens vor, um die Erd-Mächte zu einen und die Welt vor dem Untergang zu retten. Letzten Endes steht es für die Ursache dessen, was in unserer Welt nicht stimmt. Für mich steht es für das Schlechte in den Menschen, die Niedertracht, die Dummheit, die Ignoranz, die Apathie, die Unfähigkeit zur Selbstreflexion.
Was das Artwork generell anbelangt, so wurde es wieder von unserem Freund und Art Director Volker Maass (www.liebermaassnehmen.de) konzipiert. Jedes Format des Albums, sei es Standard CD, 2CD Artbook oder Vinyl hat ein etwas anderes Cover und ein einzigartiges Artwork. Bilder und Gestaltung sind formatexklusiv. Alles folgt natürlich einem Konzept und der Grundtenor ist derselbe, aber da uns klar war, dass sich viele unserer Fans mehr als nur ein Format kaufen werden, wollten wir hier auch gestalterisch einen Mehrwert bieten.

BODYSTYLER: Wird es denn Möglichkeiten geben, Euch wieder live zu erleben? Wäre vielleicht sogar eine kleine Tour im Bereich des Möglichen? Wenn hättet Ihr eigentlich mal gern als Support bzw. für wen würdet Ihr denn gern mal den Abend eröffnen?

STEFAN NETSCHIO: Wir werden sicherlich dieses Jahr ein paar Shows spielen, angefangen mit dem Eastend Festival in Halle Ende April. Dann werden wir Mitte Mai in Oberhausen spielen und Ende Juli sind wir für das Terminus Festival in Calgary, Kanada gebucht. Das Jahr ist noch jung, mal sehen, was sich noch so ergibt. Ich denke, wir werden nächstes Jahr vermehrt auftreten, aber bislang ist noch nichts weiter bestätigt. Es mehren sich allerdings die Anfragen aus den USA. Wir spielen gerne Festivals und als Support für größere Bands, weil wir da das größte Publikum ansprechen. Allerdings könnte ich Dir jetzt keine spezielle Band nennen, außer vielleicht IAMX. Und die Bands, die uns bei unseren Shows supporten, suchen wir uns in der Regel nicht selbst aus. Da wir selten ausgedehnte Touren spielen, ist es auch nicht notwendig, sich den Supportact auszuwählen, mit dem wir über längere Zeit auch menschlich klar kommen müssen.

BODYSTYLER: Vielen Dank für die Beantwortung und ich wünsche Euch viel Erfolg mit "Darkness Falls Again"!