Mildreda

Echte (Klang-)Farben

06.12.2023 - Der Belgier Jan Dewulf hat einen langen musikalischen Weg hinter sich. Seine Anfänge finden sich im Dark Electro, es gab Ausflüge in etwas lichtere, tanzbare Regionen und auch Gothic Rock wurde geboten. Mit Mildreda steht aktuell wieder der dunkle Sound im Mittelpunkt und "Blue-Devilled" ist ein teuflisch gutes Werk geworden. Von: Torsten Pape

Image Die Hölle, die sich in den Augen der anderen Menschen spiegelt. (Foto: Pieter Clicteur)

BODYSTYLER: Da dies unser erstes Interview ist, möchte ich Dich bitten, Dich und Dein Projekt vorzustellen. Was waren die ursprünglichen Gründe, es zu starten? Was ist mit der langen Pause, die es gab? Was waren die Gründe für die Wiederauferstehung im Jahr 2009?

JAN DEWULF: Ich begann meine Reise mit Mildreda während meiner Teenagerzeit in den 1990er Jahren, angetrieben von meinem Drang, dunkle Electro-Musik zu machen. Ich wusste eigentlich gar nichts. Ich hatte nicht einmal einen eigenen Synthesizer, aber dieses unaufhaltsame Verlangen, Musik zu machen. Und so fing ich an, einige Demobänder zusammenzustellen, wobei die ersten Versuche noch etwas ungeschliffen waren. "De Laffe Denker" sollte jedoch später Kultstatus erlangen. Als die Jahrtausendwende näher rückte, war ich etwas enttäuscht über das mangelnde Interesse der Labels und legte Mildreda vorübergehend beiseite, um mich anderen musikalischen Herausforderungen zu stellen. Während dieser Auszeit verfeinerte ich meine Fähigkeiten als Produzent und Songwriter. Fast ein Jahrzehnt später führte mein wiedererwachtes Interesse an Dark Electro zu einem ersten Mildreda-Comeback. Ermutigt von Fans und Freunden begann es mit einem Überraschungsauftritt auf einer Geburtstagsparty. Daraus entstand schließlich "Coward Philosophy", das ausschließlich in digitaler Form veröffentlicht, aber von den Fans begeistert aufgenommen wurde.
Aber dann ist das Leben wirklich "passiert": eine Scheidung, eine Midlife-Crisis und eine allgemeine Abwärtsspirale. In dieser Zeit habe ich einen überraschenden Umweg gemacht und mit Your Life On Hold Gothic-Rock erschaffen, der etwas völlig anderes war. Die Arbeit mit Gitarren war in der Tat eine sehr inspirierende Reise, die meine Fähigkeiten als Produzent und Songschreiber weiter geschärft hat.
Das Jahr 2020 markierte einen wichtigen Wendepunkt für Mildreda. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit reif war für die ultimative Ära von Mildreda. Ausgestattet mit der Reife eines erfahrenen Produzenten und einer Fülle von Inspirationen arbeitete ich an dem Album "I was never really there" (2021) und unterzeichnete einen Vertrag mit Dependent.

BODYSTYLER: Wie würdest Du den Hauptunterschied zwischen Deinen letzten beiden Alben und dem neuen beschreiben?

JAN DEWULF: "Coward Philosophy" (2016) markierte die erste Wiederauferstehung von Mildreda, die sich vom früheren Repertoire inspirieren ließ, indem ich alte Songs neu interpretierte und eine neue Perspektive einnahm. Als Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft wurde die authentische Essenz der frühen Tage beibehalten und gewürdigt, während gleichzeitig eine zeitgemäße und solide Produktion umgesetzt wurde.
Mit "I was never really there" (2021) wollte ich ein neues Kapitel aufschlagen. Je nachdem, wie viele der Demobänder man in Betracht zieht, könnte man es als zweites, drittes oder sogar viertes Album wahrnehmen. Aus meiner Sicht handelt es sich jedoch in erster Linie um ein "erstes Album" - die erste Mildreda-Veröffentlichung auf CD. Dieses Album bedeutete den Beginn eines neuen Abenteuers. Musikalisch wollte ich zeigen, wofür Mildreda heute steht.
"Blue-Devilled" hat sich zu einer Mischung aus dem klassischen Mildreda-Sound und dem künstlerischen Weg entwickelt, den ich seitdem beschritten habe. Es verkörpert einen klassischen Dark-Electro-Sound, während es gleichzeitig die unverwechselbare Mildreda-Essenz beibehält, die sich durch komplizierte Überlagerungen, eindringliche Atmosphären und ein unbeirrbares Bekenntnis zu einer zutiefst dunklen Ästhetik auszeichnet. Ich denke, dass Mildreda mit diesem Album seine authentische Essenz mit einem reicheren, melodischeren musikalischen Ausdruck offenbart.

BODYSTYLER: Gibt es irgendwelche nennenswerten technischen Errungenschaften, die Einfluss auf den Sound des neuen Albums hatten?

JAN DEWULF: An einem bestimmten Punkt hatte ich eine erhebliche Schreibblockade. Das Besondere an einer Schreibblockade ist, dass sie nicht zwangsläufig zum Stillstand des Musikschaffens führt. In Wirklichkeit geht der kreative Prozess weiter, aber es setzt eine Verachtung für fast alles ein, was produziert wird. Instrumente und Plug-ins, die mir in der Vergangenheit stets gute Dienste geleistet hatten, verloren plötzlich ihre Fähigkeit, mich zu inspirieren. Schließlich entschied ich mich, in neue Synthesizer zu investieren, um meine Inspiration neu zu entfachen und glücklicherweise erwies sich dieser Ansatz als erfolgreich.

BODYSTYLER: Mit Deiner Musik vermittelst Du Dunkelheit, kraftvolle Melodien und tiefe Atmosphären. In meinen Augen unterscheidet sich Mildreda von vielen anderen Electro-Projekten, indem die ultimative Härte in Musik und Gesang vermieden wird. Warum verspürst Du nicht den Drang, die Eskalationstaste zu drücken?

JAN DEWULF: Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Härte aktiv vermeide. Es ist einfach so, dass ich mich immer wieder zu einem bestimmten Sound hinbewege. Es gibt Fälle, in denen ich mit der Absicht loslege, etwas Lautes und Verzerrtes zu schaffen, nur um dann im Laufe des kreativen Prozesses zu einem zugänglicheren Sound zurückzukehren. Diesen Aspekt schätze ich zum Beispiel an Dead When I Found Her. Ich beschreibe sie gerne als eine leichter verdauliche Version von Skinny Puppy, wenn dieser Ansatz überhaupt Sinn macht. Ich glaube, ich fühle mich mit diesem Sound verwandt. Ich strebe nach einer Mischung aus Düsternis und Kraft und behalte dabei eine atmosphärische und farbenfrohe Qualität bei. Mit diesem Album wollte ich den Dark-Electro-Sound aufwerten, indem ich ein breiteres Spektrum an Farben und Melodien einbeziehe. Ich glaube, dass Mildreda auf "Blue-Devilled" wirklich seine Essenz zeigt und seine echten Farben enthüllt.

BODYSTYLER: Auf "Blue-devilled" beschäftigst Du Dich mit den Themen Hölle und Teufel. Würdest Du sagen, dass es darum geht, diese dunklen Dinge/Seiten zu erkennen, zu bekämpfen oder zu akzeptieren? Hast Du Frieden mit dem Teufel in Dir gefunden?

JAN DEWULF: Ich habe noch keinen Frieden mit meinen inneren Dämonen gefunden (lacht). Ich kämpfe jeden Tag gegen sie an. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich Musik mache, denke ich. Songs zu machen ist mein Weg, meine Dämonen auszutreiben. Aber die Hölle in diesem Album ist die philosophische Hölle von Sartre. Die Hölle, die sich in den Augen der anderen Menschen spiegelt. Der Blick des Teufels, in dem wir eine Version von uns selbst sehen, die wir nicht mögen. Das ist das Hauptthema des Albums, und ich denke, man kann "Blue-Devilled" ein Konzeptalbum nennen.

BODYSTYLER: Kannst Du Dich daran erinnern, wann Du zum ersten Mal mit dem Werk von JP Sartre in Berührung kamst? War es Liebe (und Verständnis) auf den ersten Blick, oder musstest Du Dir diese Beziehung erarbeiten?

JAN DEWULF: Ich habe einen Master-Abschluss in Philosophie und an der Universität Gent Philosophie studiert. Sartre kam mit seinem berühmten Satz "Die Hölle sind die anderen" aber schon vorher, in der Schule, auf mich zu. Jean-Paul Sartre selbst hat mich nie wirklich gefesselt. Als das Thema des Teufels als zentrales Element während der Entstehung des Albums auftauchte, wurde Sartres berühmter Satz fast unvermeidlich. So fand er seinen Weg in die Erzählung des Albums, auch wenn ich ihn nicht unbedingt als meinen Lieblingsphilosophen bezeichnen würde. Nichtsdestotrotz ist seine Aussage "Die Hölle sind die anderen Menschen" unbestreitbar brillant und diente als perfekter roter Faden für das übergreifende Konzept des Albums.

BODYSTYLER: Würdest Du sagen, dass es den Menschen heutzutage mehr oder weniger wichtig ist, was andere Menschen über sie sagen oder denken? Einerseits scheint es mehr Selbstvertrauen zu geben, weil sich jeder auf unzähligen sozialen Plattformen präsentiert. Andererseits sind viele Menschen von der Meinung anderer Menschen oder zumindest von "Likes" abhängig.

JAN DEWULF: Das Paradoxe an den sozialen Medien ist, dass sie gleichzeitig Verbindungen schaffen und Spaltungen hervorrufen. Einerseits ermöglichen sie es den Menschen, miteinander in Kontakt zu treten, andererseits findet sich der Einzelne oft isoliert hinter einem Bildschirm wieder. Die entstandene Verbindung ist weitgehend virtuell, und es ist beunruhigend zu beobachten, wie dies manchmal eine "Wir-gegen-die"-Dynamik auf sozialen Plattformen fördert. Aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls kann es entmutigend sein, Menschen in einer Kneipe oder einem Restaurant zu beobachten, die an ihren Bildschirmen kleben, anstatt sich von Angesicht zu Angesicht zu unterhalten. Das macht mich am meisten traurig. Ein Gleichgewicht zu finden, ist vielleicht die größte Herausforderung. Es mag zwar befriedigend sein, für das aufgemotzte Bild, das man gepostet hat, Anerkennung zu bekommen, aber man darf die greifbare Welt um uns herum nicht aus den Augen verlieren. Es ist jedoch ein interessanter Gedanke, dass diese Facebook-"Likes" das genaue Gegenteil des "die-Hölle-sind-die-anderen"-Gefühls sind. Sie vermitteln ein virtuelles Gefühl der Anerkennung statt des Gefühls, beurteilt zu werden.

BODYSTYLER: Leider kenne ich die Bonustracks der Limited Edition nicht. Was kannst Du mir über diese fünf zusätzlichen Songs sagen? Die Titel klingen jedenfalls sehr vielversprechend…

JAN DEWULF: Ich wollte, dass diese zweite Scheibe ein eigenständiges Album ist. Es ist definitiv keine Sammlung von Überbleibseln, B-Seiten oder Fehlversuchen. Einige Songs passten einfach nicht genug in die Geschichte oder den allgemeinen Sound, um auf das Hauptalbum aufgenommen zu werden. Aber ich bin glücklich mit dem, was dort enthalten ist. Ich glaube, dass es hier einige verborgene Dark-Electro-Schätze gibt, die es zu entdecken gilt und hoffe, ihr werdet diese Reise auch genießen.

BODYSTYLER: Würdest Du uns bitte Deine Top 5 (oder 10) der klassischen elektronischen Alben und Deine Top 5 (10) Alben des letzten Jahres nennen (alle Stilrichtungen).

JAN DEWULF: Klassische elektronische Musik, ohne mir den Kopf darüber zu zerbrechen und in keiner bestimmten Reihenfolge:

Fluke: "Risotto"
Underworld: "Dubnobasswithmyheadman"
Dreadzone: "Biological radio"
Syntax: "Meccano Mind"
Crystal Method: "Vegas"

"Szenenahe" elektronische Alben, die großen Einfluss hatten (eine schnelle Auswahl):

Placebo Effect: "Galleries of Pain"
yelworC: "Blood in Face"
Project Pitchfork: "Lam-‘bras"
Dive: "Concrete Jungle"
Suicide Commando: "Stored Images"
A Split-Second: "Kiss of Fury"
Numb: "Death on the Installment Plan"

2023:

David Eugene Edwards: "Hyacinth"
2nd Face: "utOpium"
Goethes Erben: "X"
Host: "IX"
Katatonia: "Sky Void of Stars"

BODYSTYLER: Darf ich Dich nach Neuigkeiten bezüglich Diskonnekted fragen? Ich gehöre nämlich zu den Leuten, die sich sehr über ein neues Album freuen würden…

JAN DEWULF: Diskonnekted ist tot. Letztes Jahr, anlässlich der Hochzeit eines Freundes, sind wir nur für einen Abend auf der Bühne auferstanden, und da wusste ich es ganz genau: Diskonnekted wird für immer tot bleiben. Ich mag es einfach nicht mehr machen.

BODYSTYLER: Schade. Wann und wo werden die Leute die Möglichkeit haben, Mildreda live auf der Bühne zu sehen?

JAN DEWULF: Wir spielen am 16. Dezember in Dresden, und für nächstes Jahr sind bereits Sint-Niklaas (B), Stuttgart und Kiel bestätigt. Aber es sind noch mehr Konzerte in Planung.

BODYSTYLER: DANKE!

JAN DEWULF: Vielen Dank, Torsten! Cheers!