Kirlian Camera

Tod als Übergang

06.02.2024 - Mit "Radio signals for the dying" präsentiert die italienische Band Kirlian Camera zwei Jahre nach dem imposanten Vorgänger bereits das nächste voluminöse Meisterwerk. Neben diversen Hits bietet das Album unzählige, inhaltliche Schichten und detaillierte Klanglandschaften. Im Interview geben die Masterminds Elena Alice Fossi und Angelo Bergamini Einblick in ihre komplexe, wohlklingende Welt. Von: Torsten Pape

Image L'estetica italiana (Foto: Raven)

BODYSTYLER: Der Abstand zwischen den letzten drei Alben beträgt drei Jahre und jedes dieser Werke ist sehr umfangreich. Ich könnte mir vorstellen, dass andere Bands sich über so viel Kreativität freuen würden. Möchtet Ihr vielleicht einen Teil des Geheimnisses Eurer scheinbar unerschöpflichen Schaffenskraft verraten?

ELENA ALICE FOSSI: Deine Worte freuen uns sehr, denn wir wissen, wie wichtig, aber auch wie schwierig es ist, Kreativität auf Dauer zu erhalten. Wir haben einfach so viel zu sagen. Wir beschäftigen uns ununterbrochen mit Musik, wie auch mit dem Leben. Und Musik besteht nicht aus sieben Noten, sondern aus einer Unendlichkeit von Themen. Wir benutzen die Musik als Übersetzung solcher Themen. Sie ist es, die uns erlaubt, schwierige, manchmal bedeutsame Themen anzugehen, auf die wir uns oft gerne beziehen. Es gibt zudem ein starkes Gefühl der Rebellion gegen die Welt, das uns schon immer begleitet hat. Die Regeln, die es zu befolgen gilt, sind oft gegen uns und gegen die menschliche Rasse im Allgemeinen. Wir leben in der krassesten Heuchelei, die sich durch falsche Philanthropen, falsche Gutmenschen und falsche Demokratie manifestiert. Wir gehören nicht zu den Künstlern, die sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs heraushalten wollen. Wir sind bereit, uns die Hände schmutzig zu machen, wenn es nötig ist, und wir wollen durch Poesie Zeugnis ablegen. Wenn wir Texte und Musik schreiben, können wir manchmal kaum atmen, weil wir so sehr darin aufgehen. Manchmal ist es zerstörerisch für uns, aber es hinterlässt etwas Ewiges, zumindest in unseren Herzen.

BODYSTYLER: Was könnt Ihr uns über Eure aktuelle Bandbesetzung erzählen, die einen sehr stabilen Eindruck macht? Was ist das Besondere an der Chemie, die Euch verbindet?

ELENA ALICE FOSSI: Meine Antwort ist wahrscheinlich noch verrückter als das, was wir gerade erleben. Auf der Bühne stehen vier (oder fünf) sehr unterschiedliche Elemente, die völlig unterschiedliche Leben führen, unterschiedliche Lieben haben... und doch geschieht eine verdammt seltsame Magie, die nicht zu leugnen ist. Wenn die Bühne von Kirlian Camera betreten wird, scheint sich die Zeit zurückzudrehen, denn das Spiel ergreift von uns Besitz, trotz der dramatischen Kraft, die oft durch die Musik, die wir spielen, erzeugt wird.

BODYSTYLER: Da die meisten Eurer Alben einem bestimmten Konzept folgen, würde es mich interessieren, wie Ihr den roten Faden dieses Mal erklären würdet? Ich vermute, es könnte etwas mit dem Tod in all seinen Erscheinungsformen zu tun haben?

ELENA ALICE FOSSI: Dieses Album zu erklären ist für uns so heikel, dass unser größtes Bestreben darin besteht, es den Menschen durch Gefühle zu vermitteln. Als wir spürten, dass der Grundgedanke dieses neuen Werkes in uns wuchs, sahen wir so viele tote Menschen um uns herum, im Supermarkt um die Ecke, im Bekleidungsgeschäft, auf der Straße... Was also ist der Tod? Das Verlassen dieser Dimension oder ein Leben lang Warten? Die Themen, die wir zu behandeln versuchten, sind vielfältig und komplex. Es beginnt bei der Kryogenik, die viele Mächtige mit der Idee verbinden, sich selbst so lange wie möglich frisch und jung zu halten, oder die andere Superreiche nutzen möchten, um einem kranken Familienmitglied Hoffnung zu geben. Dann gibt es die Verängstigten, die zu Hause bleiben sollen, um nicht krank zu werden. Und wieder geht es um Gefangenschaft! Wer lebt wirklich? Sie nicht! Die wirklichen Toten sind diejenigen, die jegliches kritische Denken verloren haben und sich auf extrem gefährliche Kräfte verlassen, die immer neue und abwegige Experimente in der Hölle des Social Engineering zulassen.

BODYSTYLER: Das Artwork Eurer Alben ist immer sehr wichtig für Euch und hilft den Fans oft, das Gesamtbild zu verstehen. Was könnt Ihr uns über den aktuellen Ansatz erzählen?

ELENA ALICE FOSSI: Das Cover zeigt verstorbene Menschen auf einem elektronischen Friedhof, aber manche behaupten, das Foto zeige eine Gruppe von Menschen im Winterschlaf. In jedem Fall schwebt der Tod über diesem Bild, und es vermittelt das Gefühl einer Beerdigung - das ist das Produkt des Unbewussten - von etwas, das die Tatsache des Todes selbst, die wir aus diesem Bild ableiten, nicht erkennt. Der Tod als ein Übergang oder eine "Station der Existenz" ist für viele ein unklares Konzept. Früher oder später werden sie sich fragen müssen, wo sie sich eigentlich befinden. Man muss kein Eingeweihter sein oder gar tiefen esoterischen Kreisen angehören, um zu erkennen, wo der Anfang der Lebensspur zu finden ist. Wie gesagt, es ist oft eine Frage der Sensibilität, der Intuition. Ein Studium (das oft mit wirtschaftlichen Möglichkeiten verbunden ist) reicht nicht aus, um den Weg zu erhellen. Der Weg erweist sich oft als holprig, tückisch und verflucht durch die Planungen anderer, von denen man sich besser abwenden sollte...

BODYSTYLER: Auf "Hologram moon" habt Ihr die italienische Sprache in Euren Liedern wiederentdeckt. Es scheint, dass Ihr dieser Idee immer noch etwas abgewinnen könnt. Bitte helft uns Nicht-Italienern zu verstehen, worüber Ihr singt und warum Ihr Eure Muttersprache für Lieder wie "Il tempo profondo" und "Madre nera" gewählt habt.

ELENA ALICE FOSSI: Die "Tiefenzeit" ("il tempo profondo") ist ein Konzept, das sich auf die geologische Zeitskala bezieht und erstmals im 18. Jahrhundert von dem schottischen Geologen James Hutton (1726-1797) entwickelt wurde. Die Idee der zeitlichen Unermesslichkeit, in die der Mensch in seiner Beziehung zur Erde und zu den geologischen Phänomenen geraten ist, hat mich sofort fasziniert, denn die zeitliche Dimension wird dadurch zu einer unvorstellbaren Weite ausgedehnt. Der Refrain, der auf Italienisch gesungen wird, stellt den Ablauf einer unendlichen und nicht linearen Zeit dar ("Die tiefe Zeit fließt, die Unendlichkeit eines Kosmos..."). Das manchmal schmerzhafte Gefühl, sich angesichts dieser unbeschreiblichen Weite unwiederbringlich klein zu fühlen, wird jedoch in die Wiege des "Eintauchens" gelegt. Vielleicht ist es genau das, was mich dazu gebracht hat, meine Muttersprache zu verwenden. Vielleicht fühlte ich mich sicherer, wenn ich die Laute benutzte, mit denen ich aufgewachsen bin. Die "Schwarze Mutter" ("Madre Nera") ist das Sinnbild der Trauer. Das Lied beginnt düster und bedrohlich und klingt dann fast wie ein Befreiungsgesang. Es stimmt, Trauer als Befreiung, zumindest für diejenigen, die wie wir an eine neue Perspektive glauben, die über diesen begrenzten Raum des Lebens hinausgeht. Wir sind hier, um uns weiterzuentwickeln, und Trauer ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Reifung. Manchmal muss man das Sonnenlicht verdunkeln, weil viele Menschen hier denken, sie würden "dem Licht folgen", während sie nur davon geblendet sind.

BODYSTYLER: Es ist so ehrenwert, dass Ihr "Winter" von The Sound gecovert habt, und es ist eine so wunderbare Version geworden. Ich hatte einmal das Vergnügen, Adrian Borland zu treffen und finde, dass man seine Musik viel öfter hören sollte. Was ist Eure Geschichte mit seiner herausragenden Arbeit? Was bedeutet seine Musik generell für Euch?

ANGELO BERGAMINI: Ich mochte viele seiner Alben. Viele seiner Lieder waren gut hörbar, aber sie enthielten ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit, der Entfremdung von der Welt. The Sound kenne ich seit "Jeopardy" und seit "From the Lion's Mouth" weiß ich dieses Projekt noch mehr zu schätzen. Anfang der 1980er Jahre war ein Konzert von ihnen in Parma, der Stadt, in der ich lebte, angekündigt worden, aber die Veranstaltung wurde abgesagt, da leider keine Karten verkauft worden waren. Ich erinnere mich noch gut an die Wut, die ich empfand. Borland produzierte jedoch bis zum Schluss sehr inspirierte Musik. Vieles von dem, was er komponiert hat, ist immer noch nicht sehr bekannt und hätte mehr Aufmerksamkeit verdient. Allein schon deshalb, weil ich beim Hören dieser Platten das deutliche Gefühl habe, jemandem zuzuhören, der sich nicht verarschen lässt. Sein Tod hat damit nichts zu tun, denn schon 1981 konnte man sein Ende erahnen: in Stücken wie "Silent Air" und später in "Winter" hatte er schon gewarnt und wissen lassen, wie es enden würde. In seiner Musik bewahre ich sein "Gold" und bin ihm dankbar, nicht so sehr jedoch für seinen frühen Tod. Ich schätze im Nachhinein nie diejenigen, die Selbstmord begehen.

BODYSTYLER: "Götter geht weg" ist eine fantastische Single und auch ein Ohrwurm geworden. Würdet Ihr bitte die Geschichte zu diesem Track erzählen. Ihr habt ja mittlerweile einen Bezug des Textes zu Hevrin Khalaf verraten, vielleicht möchtet Ihr sie unseren Lesern zunächst einmal vorstellen? Danach interessiert mich die Geschichte, wie Ihr auf die Melodie und den deutschen Titel gekommen seid?

ELENA ALICE FOSSI: Die Götter sind die Architekten der so genannten Welt, oder besser gesagt, sie sind das, was viele von uns Götter oder Gott nennen. Zu erklären, was und wer sie wirklich sind, macht hier keinen Sinn. Es ist notwendig, dass jeder anfängt zu recherchieren, vielleicht unter Vermeidung der "Handy"-Kanäle und selbsternannten Online-Enzyklopädien. Nach einer Weile verbinden sich die Punkte auf ganz natürliche Weise, indem man einem Muster folgt, das ziemlich offensichtlich ist: Die Götter sind diejenigen, die hinter unseren Herrschern und so genannten Eliten arbeiten, die, deren wirklichen Namen oder Code keiner von uns kennt. Wir müssen anfangen, unsere Vorstellungskraft/Intuition über die bekannten Milliardäre und Billionäre hinaus zu projizieren. Wie ich bereits sagte, werden wir hier aufhören, auch weil es sich um extrem gefährliche Themen handelt und der Umgang mit ihnen einige Vorsichtsmaßnahmen erfordert. Es ist jedoch klar, dass das Böse sich nicht immer mit einem entsprechenden Etikett präsentiert. Wenn wir von weiteren Fakten sprechen, die als konkret erkennbar sind, können wir sagen, dass Hevrin Khalaf eine studierte Bauingenieurin und Generalsekretärin der Zukunftspartei Syriens sowie eine kurdische Aktivistin war, die ihr Leben dem Kampf für ein friedliches Zusammenleben zwischen Kurden, christlichen Syrern und Arabern gewidmet hat, weshalb sie von allen Gemeinschaften respektiert wurde. Sie kämpfte für die Rechte der Frauen in islamischen Gemeinschaften und war für ihr großes diplomatisches Geschick bekannt. Am 12. Oktober 2019 starb sie im Alter von nur 35 Jahren in einem Hinterhalt, der höchstwahrscheinlich von einer pro-türkischen Milizgruppe organisiert wurde. Das ganze Grauen dieser Momente, der letzten Handlungen ihres jungen Lebens, wurde in zwei Videos festgehalten, in denen die Gruppe von Männern zu sehen ist, die wie ein Rudel um Hevrin herumkreist. Dann sieht man ihren toten Körper auf dem Boden, besudelt mit Blut und ist entsetzt über die Mörder, die mit den Füßen auf sie eintraten und schrien: "Das ist der Körper des Schweins." Hinter ihrem Tod verbirgt sich die Geschichte eines Syriens, das im Innersten zerrissen ist, und das Drama der Frauen, die von ISIS, der Türkei oder dem syrischen Regime selbst abgeschlachtet werden (um die Gegenseite nicht zu vergessen...). Der jüngste Bericht von SNHR (Syrian Network for Human Rights) zeigt alarmierende Zahlen: Von 2011 bis 2017 (dem Jahr der letzten Erhebung) wurden in Syrien 24.746 Frauen getötet, darunter 11.402 Mädchen. Mehr als 8.000 Frauen werden zudem vermisst oder sind inhaftiert. Dem Bericht zufolge werden sie gezielt ermordet, um eine Botschaft des Terrors zu senden, eine Warnung an das gesamte Volk. Oft werden sie vergewaltigt und vor den Augen ihrer Ehemänner und Kinder getötet. Wenn sie inhaftiert werden, werden sie zu monatelanger physischer und psychischer Folter verurteilt. Für diese Frauen hat Hevrin Khalaf gekämpft, und für sie ist sie gestorben.

BODYSTYLER: "The great unknown" war ursprünglich eine Zusammenarbeit mit Solitary Experiments. Wie seid ihr in Kontakt gekommen und warum hattet ihr das Bedürfnis, eine eigene Version zu produzieren? Könnte das auch ein Kandidat für eine dritte Single sein?

ELENA ALICE FOSSI: Es ist möglich, dass die dritte Single "Stella Ominis" sein wird, aber auch unsere Vision zu "The Great Unknown" wird ebenfalls im Rampenlicht stehen.

BODYSTYLER: "CRUD (Corpse recovery Unit D)" - der Titel klingt irgendwie makaber, aber beim Zuhören ist es pure Schönheit, die den Hörer empfängt. Spielt ihr mit Widersprüchen oder gibt es gar keinen Widerspruch?

ELENA ALICE FOSSI: Natürlich war das Spiel mit Gegensätzen schon immer unsere Art, den Dingen ins Auge zu sehen, aber oft entpuppen sich die so genannten Widersprüche einfach als Konzepte, die von den meisten nicht verstanden oder zu vereinfacht entwickelt wurden. Je mehr man die Gelegenheit hat, über ein Konzept nachzudenken, desto weniger widersprüchlich wird es einem erscheinen! Jedenfalls, wenn die Demokratie wie ein Bett auf- und abgebaut wird, wenn die Fernseher voller Scharlatane sind, deren Kragen von der Macht des Augenblicks nie gelockert wird, wenn die Banken die Politik und die Politik die Wissenschaft und die Kultur im Allgemeinen dominieren, wenn diejenigen, die die Wahrheit sagen, ständig diskreditiert, ermahnt, boykottiert, verspottet, bestraft werden, bis hin zu dem Risiko, wie Julian Assange zu enden und wenn die Leute glauben, dass "es in Ordnung ist", trotz der Unmengen an Scheiße, die sie jeden Tag wegräumen müssen, nun, dann gibt es einen konkreten Bedarf für eine "Leichenbergungseinheit". Denn wie kann man glauben, dass bestimmte Leute noch am Leben sind? Sie atmen, das ist wahr, sie gehen ins Fitnessstudio und organisieren die besten Geburtstagsfeiern für ihre Kinder, sie arbeiten, sie gehen ins Kino und zu Ausstellungen, aber leben sie wirklich?

BODYSTYLER: Ihr werdet Ende Februar auf dem Dark Rush Festival (Revival) spielen. Angelo, erinnerst du dich an Deinen letzten Dark Rush-Festival-Auftritt vor etwa 26 Jahren?

ANGELO BERGAMINI: Meine Erinnerungen sind verschwommen, tut mir leid...

BODYSTYLER: Auf diesem Festival werdet Ihr die Veröffentlichung des neuen Albums feiern. Habt Ihr schon eine Vorstellung davon, wie viele der neuen Stücke Ihr in Euer Set aufnehmen werdet? Was können die Besucher von Eurem Auftritt und Eurer Setlist erwarten?

ELENA ALICE FOSSI: Wir wissen immer noch nicht genau, wie viele Songs des neuen Albums tatsächlich live gespielt werden, da wir eine Band der alten Schule sind, die sich auf Musiker, im wahrsten Sinne des Wortes, verlassen kann, auf Leute, die einen soliden und erfahrenen Lebenslauf haben, der auf allen Bühnen der Welt entstanden ist. Also entscheiden wir normalerweise in letzter Minute, ohne etwas zu früh zu planen (wir und unsere Musiker müssen immer bereit sein für ein unvorhergesehenes Ereignis), aber ich kann sagen, dass sowohl Angelo als auch ich die neuen Stücke zu Gehör bringen wollen. Also nehme ich an, dass der erste Teil der Show dem neuen Album gewidmet sein wird, vielleicht den "techrock-orientierten" Liedern, aber auch dem Dark-Avantgarde-Teil des Albums (der auf "Radio Signals for the Dying" wirklich enormen Raum einnimmt) wird im Angebot sein, wenn auch nur in den ersten Minuten.

BODYSTYLER: Danke, dass Ihr Euch mit meiner Neugierde auseinandergesetzt habt. Ich wünsche Euch alles Gute für diese Veröffentlichung und viel Spaß bei den anstehenden Konzerten.

KIRLIAN CAMERA: Vielen Dank für Deine spannenden Fragen. Fröhliche Grüße aus dem Alien-Bunker!