Diskarnate

Kraftvolle musikalische Alchemie

25.05.2013 - Dieses Projekt - bestehend aus Susan Anway (Gesang) sowie den beiden Ton-Jongleuren Jack Andrews und Armin Kuester - überraschte kürzlich mit seinem Debüt-Album "Greed". Auf ihm verschmelzen auf grandiose Weise kraftvolle EBM-/Electro-Strukturen mit sphärischen Ambient-Komponenten und einer unter die Haut gehenden Frauenstimme. Man kann nur hoffen, dass dies der Beginn einer langen Karriere ist. Von: Torsten Pape

Image Jack, Susan und Armin - ein dunkel-ätherisches Trio (Foto: Promo)

BODYSTYLER: Auf welche Weise kam es denn zur Überschneidung der Wege von euch drei gestandenen Musikern? Gab es schon vor 2012 gemeinsame Betätigungsfelder oder ist der große Zufall Schuld an eurem jetzigen Zusammenwirken?

ARMIN KUESTER: Der Zusammenschluss von Diskarnate ist den globalen Kommunikationsmöglichkeiten des Internets zu verdanken. Vor dem großen Facebook-Hype war ja MySpace für Musiker und Hörer die Nummer 1. Irgendwann vor ein paar Jahren bekam ich über diese Plattform eine Nachricht von einem gewissen Jack Andrews. Er stellte sich als Ambient-Musiker vor und fragte konkret nach einem Remix. Er schrieb, dass er meine Musik sehr möge und auch den für ihn "typisch deutschen" Electro-/Industrial-Sound. In einer ruhigen Minute habe ich dann mal in seine Musik reingehört und war schwer beeindruckt von der tiefen und speziellen Atmosphäre. Das hat mich wirklich neugierig gemacht. Ich habe dann wieder Kontakt mit ihm aufgenommen, ihn aber auch darauf hingewiesen, dass ein Remix von mir recht brutal mit der ruhigen Grundstimmung seiner Musik in Kontrast gehen würde. Er antwortete, dass er genau das erwarten würde. Also machte ich mich an die Arbeit. Es handelte sich damals um den Song "Consciousness Evolving" und der Remix sollte mit auf die Playlist seines gleichnamigen Albums. Es entstand ein brüllendes Soundmonster, welches sich Schritt für Schritt aus der ursprünglichen Atmosphäre des Songs herauspellte. Andrew mochte das Resultat sehr und versprach, mich über die Veröffentlichung auf dem Laufenden zu halten. Einige Zeit später kam dann wieder eine eMail und er fragte gerade heraus, ob ich Interesse hätte, ein ganzes Album im Stil des Remixes mit ihm zu produzieren, quasi unter dem Motto "Ambient meets Industrial". Da ich zeitlich sehr eingespannt war, habe ich nicht direkt zugesagt. Aber er schickte mir weitere Layouts seiner Songs und ich hörte im Kopf direkt das mögliche Ergebnis. Das hat mich damals wirklich angetriggert. Ich sagte zu und über ein paar Monate entstanden mehr und mehr Songs. Allesamt weit entfernt vom klassischen Songaufbau; eher Tracks mit langen Intros, die mehr und mehr in knallenden Beats und schnellen Sequenzen mündeten. Zu dem Zeitpunkt war es auch klar, dass es definitiv ein Instrumental-Album bleiben solle. Wirklich schnell gingen die Arbeiten aber nicht voran, da ich parallel an anderen Baustellen - unter anderem [de:ad:cibel] - gearbeitet habe. Wieder einige Zeit später schrieb mir Jack, dass er eine Sängerin am Start habe, die unbedingt mal einen Song von uns "probebesingen" wolle. Ich war da zunächst skeptisch, weil ich in der Vergangenheit nicht immer positive Erfahrungen mit Sängerinnen gemacht hatte. Ich hatte aber gerade "Wicked Mortal" fertig geschrieben, was eine klassische Songstruktur aufwies und sich für ein solches Experiment anbot. Wieder einige Zeit später kam dann ein erster Entwurf mit Gesang. Ich weiß noch genau, wie ich damals ins Studio gegangen bin und dachte: 'Oh weh, was gibt das jetzt?' Als ich dann diese extrem ausdrucksstarke Stimme das erste Mal hörte, bin ich fast vom Stuhl gekippt. Der Song hatte auf einmal eine ganz andere Atmosphäre - cinematisch, fast hymnenhaft. Ich habe mich direkt wieder bei Jack gemeldet und wir entschlossen uns dazu, doch einige Songs mit Gesang auf das Album draufzupacken. Was ich damals noch nicht wusste war, dass Susan wirklich eine Weltklassestimme besitzt und bei der Band Magnetic Fields gesungen hatte. Irgendwann standen dann zehn Songs, davon die Hälfte mit Gesang. Als ich mir das vorläufige Endergebnis dann auf einer nächtlichen Autobahnfahrt angehört habe, kam mir schnell in den Sinn: 'Geht so nicht.' Wir hatten ein Album ohne rote Faden mit vielen endlos langen Industrial-Ambient-Tracks und ein paar wirklich schönen ElectroPop-Nummern. Jack sah das genau so und ich habe dann ein paar 'Schädelspalter' umgebaut, andere aussortiert und wir haben dazu komplett neue Songs geschrieben. Dies führte schließlich zum Album "Greed", wie es nun fertig vorliegt. Die einzelnen Evolutionsschritte haben viel Zeit gekostet und die gesamte Produktion sich über fünf Jahre hingezogen. Aber wir haben schließlich ein eigenständiges Profil geschärft, mit dem wir in Zukunft effektiv arbeiten können. Natürlich ist die Distanz zwischen den USA und Deutschland auch nicht gerade ein Produktionsbeschleuniger. Obwohl viele Dinge per Online-Austausch stattfanden, haben wir uns auch gegenseitig besucht. Die Vocalaufnahmen für die meisten Songs sind beispielsweise in meinem Studio hier in Deutschland entstanden.

"Unser Schwerpunkt liegt allerdings darin, Musik zu schreiben. Wenn wir dabei verschiedene Szenegrenzen überschreiten - um so besser."

BODYSTYLER: Besonders von dem harten [de:ad:cibel]-Aktivisten, hätte man wohl am wenigsten diese Art von Musik erwartet. Woran hätten denn deine Bekannten und Freunde bzw. die EBM-Gemeinde im Vorfeld erahnen können, dass einmal solch harmonische Kompositionen auf Dein Konto gehen würden, Armin?

ARMIN KUESTER: Du bist gewiss nicht der erste, der sich darüber wundert, da mich die meisten nur mit purem Electro- und Industrialsound in Verbindung bringen. In dieser Szene habe ich ganz klar meine musikalischen Wurzeln und die werden dort auch immer bleiben. Das heißt aber nicht, dass ich nur Electro/Industrial höre bzw. mich nur von diesen Genres beeinflussen lasse. Wenn Du viel Zeit im Studio mit der Produktion von elektronischer Musik verbringst, hast Du zwangsläufig nicht unbedingt Lust dazu, in Deiner Freizeit nur Elektronik zu hören. Es läuft also auch sehr viel Klassik und Filmmusik in meinem CD-Player, aber auch einigen Pop-, Rockabilly- oder Countryproduktionen (und damit meine ich nicht nur Johnny Cash) kann ich durchaus etwas abgewinnen. Meine musikalischen Einflüsse sind also recht breit gestreut. Außerdem ist die Atmosphäre des Albums ganz stark von Susan's Gesang geprägt. Hörst Du Dir die Songs instrumental an, wirst Du feststellen, dass diese klanglich gar nicht so weit vom klassischen Electrosound entfernt sind. Es ist viel mehr die Symbiose aller beteiligten Musiker, die den Diskarnate-Sound genau so wirken lassen.

BODYSTYLER: Mich würde interessieren, ob bei euren Songs zunächst die Pop-Substanz entsteht, die durch die dunklen/industriellen Klänge erweitert wird oder ist da zuerst das rhythmisch/vertrackte Electro-Gerüst, das durch die harmonischen Töne gefüllt wird?

ARMIN KUESTER: Hier gibt es nicht unbedingt einen Masterplan. Viele Stücke sind aber so entstanden, dass Jack mir quasi einen fertigen Ambient-Song in Einzelspuren geschickt hat. Ich zerschnipple dann einige Teile, arrangiere um und baue eine grobe Songstruktur daraus. Dann kommen Beats, Bässe, Strings und Melodien dazu. Es gibt aber auch Songs von Jack, die ich kaum mehr editiert habe oder auch Songs, die ich alleine geschrieben habe. Jeder Track hat definitiv seine eigene Geschichte. Am Ende entscheidet aber das Team, ob der Song so passt oder nicht. Und natürlich spielt der Gesang eine tragende Rolle.

SUSAN ANWAY: Ja, aber da mich Armin und Jack immer recht frühzeitig mit neuen Songentwürfen füttern, habe ich genügend Zeit, die gesanglichen Melodien auszuarbeiten. Natürlich muss in Rücksicht auf den Gesang auch schon mal was am Arrangement verändert werden. Die Gesangslinien sind aber meistens noch nicht perfekt, bevor mich Armin mit einem Mikrofon in seiner kleinen Studio-Krypta einsperrt (lacht).

BODYSTYLER: In euren Songs findet man zumeist eine Art dunkle Harmonie. Wie findet ihr diese Beschreibung?

SUSAN ANWAY: Ja, das trifft den Nagel sicherlich auf den Kopf. Aber man könnte auch sagen: 'kraftvolle musikalische Alchemie.' Es ist eine Zusammenkunft von verschiedensten Quellen: Electro, Ambient, Industrial, europäischem Folk, klassischen Einflüssen, keltischen Mythen und natürlich unserem individuellen musikalischen Background.

"Ich war da zunächst skeptisch, weil ich in der Vergangenheit nicht immer positive Erfahrungen mit Sängerinnen gemacht hatte."

BODYSTYLER: Wollt ihr den Albumtitel eher als Geiz, der Gier nach materiellen Werten oder gar einem Heißhunger nach eher immateriellen Dingen verstanden wissen? Daraus ableitend wäre es interessant wie ihr die Songs diesem Leitgedanken zu- bzw. unterordnet. Was stellt für euch das alle Songs verbindende Elemente, inhaltlich gesehen, dar?

SUSAN ANWAY: 'Gier' kann als das thematische Element gesehen werden, welches die meisten unserer Songs miteinander verbindet. Die Begierde nach Leben und Liebe, welche einen manchmal auch dazu verleitet, unbedingt etwas besitzen oder konsumieren zu wollen. Viele Lieder erkunden dieses Bedürfnis, aber auch die Befreiung davon. Ich habe diesen Albumtitel recht früh vorgeschlagen und Armin und Jack haben sofort verstanden, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte. Dabei ist es schließlich geblieben.

BODYSTYLER: Habt ihr denn durch das doch eher genreübergreifende Artwork schon viele Gothic- oder Doom-Metal-Fans auf Eure Fährte locken können? *zwinker*

ARMIN KUESTER: Hehe! (lacht) Die Frage überrascht mich nicht. Also das Artwork ist zunächst komplett durch Susan’s Hände gelaufen, die ein außerordentliches Talent dafür hat, musikalische Wirkung in Bildern auszudrücken. Gefehlt hat dann noch ein markantes Bandlogo. Hier durfte ich wieder mit Alex von PixelBreed.com zusammenarbeiten, der sich auch schon für die großartigen [de:ad:cibel]-Artworks verantwortlich zeichnet. Ich hatte Alex allerdings darum gebeten, etwas zu entwerfen, was nicht auf den ersten Blick “Achtung! Electro-Kombo!” schreit. Mir gefiel von Anfang an sehr dieser zackige Schriftzug, der natürlich auch in der Gothic/Metal-Szene genutzt wird. Der Gesamteindruck aus Farben, Bildern und Schriftzug hat uns aber schließlich alle überzeugt.

JACK ANDREWS: Ja, Diskarnate wird defintiv sein Publikum finden. Unser Schwerpunkt liegt allerdings darin, Musik zu schreiben. Wenn wir dabei verschiedene Szenegrenzen überschreiten - um so besser.

BODYSTYLER: Bis jetzt gibt es "Greed" ja nur als Download zu erwerben. Ist ein physischer Release denn überhaupt erwünscht oder geplant?

ARMIN KUESTER: Ich könnte mir schon gut vorstellen, dass es demnächst eine limitierte CD-Version gibt. Das hängt natürlich stark von der Resonanz ab, die bisher aber durchwegs positiv ist. Leider hat sich das Konsumverhalten in Bezug auf Musik in den letzten Jahren ja sehr stark gewandelt. Der rein digitale Konsum ist immer weiter auf dem Vormarsch. Ich bin zumindest froh, dass dabei auch die offiziellen Download-Stores vom Hörer zunehmend angesteuert werden. Es ist also immer eine schwere Entscheidung, ob ein physisches Release überhaupt noch Sinn macht. Aber da sind wir sicherlich bei einem anderen Themenkomplex angekommen.

BODYSTYLER: Es dürfte durchaus von Interesse sein, ob das Projekt auch auf den Bühnen der Republik oder gar der Welt stattfinden wird? Was könnt ihr berichten oder gar ankündigen?

ARMIN KUESTER: Diskarnate wird es ganz bestimmt live zu sehen geben, konkrete Pläne sind zur Zeit aber noch nicht geschmiedet. Zunächst müssen wir unsere Songbibliothek weiter ausbauen. Daher arbeiten wir natürlich schon an neuen Songs.