Neutral Lies

Duft oder Stinkbombe?

12.07.2013 - Irgendwo zwischen Nonsens und Gesellschaftskritik, scharfer Beobachtungsgabe und (scheinbar?) benebelter Wahrnehmung sowie digitalen und analog anmutenden Synthie-Klängen findet man das französische Duo Neutral Lies, das mit seinem zweiten Longplayer "Cryptex", aber auch den duften Aussagen im Interview für euphorisierte bis verwirrte Gesichter sorgt. Von: Torsten Pape

Image Die französische Form des Beamens... (Foto: Xavier Alphand)

BODYSTYLER: "CRYPTEX" - "CRYPtic TEXtures" ("Kryptische Strukturen")? "EXhumation in the CRYPT" ("Leichenausgrabungen in der Krypta")? "CRYPTic but EXplainable" ("Rätselhaft, aber erklärbar")? Wie darf man den Plattentitel denn verstehen?
NICK: Du bist nicht der Erste, der denkt, dass "Cryptex" etwas mit einer Krypta oder etwas Kryptischem zu tun hat, aber wir sind keine Vampir-Freaks. Eigentlich ist "Cryptex" eine Kombination der Worte Kryptologie und Kodex und bezieht sich auf einen tragbaren Tresor, in dem man geheime Botschaften versteckt. Es geht um die Entschlüsselung von Informationen und den Mann auf dem Cover, wie er mit einer Cryptex kämpft.
JF: In anderen Worten bedeutet der Name, dass manche Dinge sich einem nicht sofort erschließen, was auch gut zum Song "Decipher me" passt. Er könnte sich weiterhin auf die Komplexität der menschlichen Wesen und die verschiedenen Wege zur Entwicklung unserer Persönlichkeit beziehen.

BODYSTYLER: In Tankstellen/Autowaschanlagen in einer Art "Matrix"-Stil herumzufliegen oder auch das Bild eines Uhren-Kopfes sind schon recht kryptische Einfälle. Welche Art von Betankung ist denn nötig, um solche Bilder entstehen zu lassen?
NICK: Der Tank war leer, wir sahen das grüne Licht in der Ferne und fuhren einfach mal dorthin... Nein, im Ernst: Wir beide sind von urbanen Szenerien fasziniert und wollten keine düstere schwarz-weiße Umgebung. Die Kombination dieser Faszination mit den bezaubernden Neon-Lichtern bildete die Basis.
JF: Einen professionellen Fotografen zum Freund zu haben, kann Träume wahr werden lassen - zumindest auf Bildern. Aber allein die Tatsache, dass wir uns von alten Songs befreit haben, machte uns leichter und ermöglichte uns das Fliegen. Kryptisch oder nicht, diese Ideen sind einfach traumhaft, die Zeit schien während des Schwebens still zu stehen und die Uhr schlug 00:00.

BODYSTYLER: Es ist schon skandalös und unerhört, dass ihr anscheinend dem Axt-Effekt (oder war es der Axe-Effekt?) misstraut. Habt ihr nie das Gefühl erlebt, dass ihr zum Bimbo wurdet und in einen Zustand des Limbo verfallt, während ihr Holz hackt? ('I want to be a male bimbo...' / 'One spray and you're out of limbo...' aus "Bewitching after-shave")
NICK: Wir leiden schon immer unter dem "Mangel an Selbstbewusstsein"-Syndrom und haben uns oft gedacht, dass das Motto "No brain, no shame" doch eigentlich ganz spaßig sein könnte. Uns ist schon selbst aufgefallen, dass wir oftmals zu kopfgesteuert sind, wenn es um Frauen geht. Wir stellen uns jedes Mal tausende von Fragen, wo andere Männer einfach loslegen. Wünschen sich nicht viele Männer, eine Sex-Maschine zu sein und mit der ultimativen Waffe ausgestattet zu sein? Einem Tussi-Magneten! Die Idee von einem Zauber-After-Shave ist ja nun auch nicht gerade neu. Ich erinnere mich, dass ich bereits als Kind eine Anzeige von einem Liebes-Filter gesehen habe. Das musste ich einfach irgendwann in einem Lied verarbeiten, da ich nun mal an die Versprechen aus der Werbung glaube. Ein berühmter Sänger mit einem Schnurrbart sagte einmal: 'Ich bin eine musikalische Prostituierte', also sind wir vielleicht die Electro-Bimbos, wenn es um's Holzhacken geht und ich achte auch immer darauf, dabei mein Charles Ingals-Outfit mit dem Vokuhila-Haarschnitt zu tragen.
JF: Mir ist es nicht so wichtig, ein männlicher Bimbo zu sein. Mir geht es eher um die Innenseite der Menschen, ähmmm... ich meine natürlich ihre Seele. Und schöne Menschen haben nicht immer eine schöne Seele...

BODYSTYLER: Was ist eigentlich Euer Problem mit Leuten, die es nicht erwarten können, ihren Auftritt unter der Disco-Kugel zu haben? Was ist verkehrt daran, sein Satin-Hemd zu bügeln und den Schnurrbart zu trimmen? Nebenbei gesagt: Ich hätte nie gedacht, dass ich mal die Worte 'Afro', 'fur dice', 'dynamite' und 'discobombulation' in einem eigentlich ansonsten recht annehmbaren Song finden würde... Glückwunsch!
JF: Wir haben keine Probleme mit 'Disco-Stars', sondern lieben nur - du wirst es bereits erahnen - das Klischee (lacht). Das Lied "Glitter Ball" bezieht sich auf eine großartige Zeit von Mitte der 70er bis Anfang der 80er, als jeder noch auf der Tanzfläche ein Superstar sein konnte, mit grellem Outfit, extremen Klamotten und Verhaltensweisen.. Ich übergebe an der Stelle jedoch an Nick, da ich hier nur für die Musik zuständig bin...
NICK: Keine Probleme, womit auch immer.. (lacht) Auch wir müssen jedoch gestehen, dass wir manchmal ein wenig abschätzig auf die Disco-Ära herabblicken. Wir sind nun mal Kinder der New Wave-Szene der 80er und l(i)ebten eher das Rebellen-Image. Zugegebenermaßen übt diese Zeit aber auch eine gewisse Faszination aus. Ich erinnere mich, wie ich als Kind in den 70ern die Schlaghosen meiner Mutter und die Koteletten meines Vaters sah und weiß noch genau, wie sie damals anscheinend wirklich ihren Spaß am Feiern hatten. So kam es jedenfalls bei mir an...

BODYSTYLER: Würdet Ihr mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass Smartphones nur etwas für smarte Leute sind??
JF: Ich würde zustimmen, wenn wir 'smart' als 'modisch, 'stylisch' oder 'trendy' definieren..
NICK: Nicht unbedingt. Ich hab so ein Ding, bin aber überhaupt nicht smart... Da kommt es aber auch wirklich auf die Definition an. Es ist nichts verkehrt an einem Smartphone, so lange man nicht davon abhängig ist und sich selbst damit isoliert. Diese virtuelle Kommunikation macht mir nämlich schon Angst.

"Wenn dir wirklich mal eine Stinkbombe durch die Finger rutscht, bist du ein Trottel und verdienst es nicht, Teil des Stinkbomben-Kommandos zu sein!"

BODYSTYLER: Bitte vervollständigt folgende Sätze: Die Erschaffen von Klängen ist...
JF: ...total aufregend und es hilft dabei, die Funktionsweisen der Maschinen besser zu verstehen. Es wird dadurch eine neue Sound-Identität erschaffen und die Sammlung erweitert.
NICK: ...zeitraubend, aber spannend.

BODYSTYLER: Das Spielen mit Klängen ist...
NICK: ...wie ein Puzzlespiel.
JF: ...ein amüsantes und kreatives Spiel.

BODYSTYLER: Das Spielen mit Soundeffekten ist...
JF: ...wie das Auftragen von Nagellack.
NICK: ...eine gute Methode um Marker für die Stimmeinsätze zu finden.

BODYSTYLER: Eingängige Melodien zu komponieren ist...
JF: ...der aufregendste Teil beim Trackaufbau.
NICK: ...entscheidend.

BODYSTYLER: Abhängen mit Member U-0176 (Produzent) ist...
NICK: ...wie der Kirchgang am Sonntag. Jedes Mal, wenn wir nach Marseille fahren, ist es wie eine Pilgerfahrt.
JF: ...das Teilen schöner Momente und ein Lernprozess, wenn wir ihm bei seiner harten Arbeit zusehen.

BODYSTYLER: Unser zweites Album ist...
NICK: ...eine gute Zusammenfassung unserer musikalischen Einflüsse und Wurzeln.
JF: ...wie die Befriedigung durch eine abgeschlossene, runde Sache.

BODYSTYLER:Wie oft wacht ihr schweißgebadet auf und zittert angesichts der Vorstellung, dass "Mobile transplants" die tollste Mutation sind, die man sich vorstellen kann? Wie lange wird es brauchen bis diese Fiktion zur Realität wird?
NICK: Wenn ich sehe, wie abhängig manche Leute von ihren Mobiltelefonen sind, kann ich mir gut vorstellen, dass sie sich sofort so ein Ding einpflanzen lassen würden, wenn sie die Möglichkeit dafür bekämen. Für eine Heilung ist es bei diesen Leuten sowieso schon zu spät, da sich ihre Hirne auf Grund der 'harmlosen Radiostrahlen' schon langsam verflüssigen...
JF: Für mich ist dieser Traum vom Handy-Transplantat total überflüssig, aber für verletzte/kranke Menschen kann diese Entwicklung natürlich sehr hilfreich sein. Wenn ich die Tendenzen der Chirurgie und Cyborg-Technologien beobachte, könnten diese Implantate wirklich bald zur Realität werden.

BODYSTYLER: Inspiriert vom Titel "Stink bombs" würde mich interessieren, ob ihr mir zehn Ziele nennen könntet, um dort eine Stinkbombe abzuwerfen?
NICK: Mein Chef, hochnäsige/arrogante Bastards, Menschen, die töten, vergewaltigen, verletzen und gegen den gesunden Menschenverstand handeln. Der Barkeeper eines berühmten Acid-Clubs in Belgien in den 90ern, der uns gezwungen hat, Drinks zu bestellen, um nicht rausgeschmissen zu werden. Aber wir hatten unsere Stinkbomben ja dabei, ließen sie auf der Tanzfläche fallen und oh, du süße Rache... (verzückt lächelnd) Und mich selbst natürlich, wenn ich es mal wieder vermassele...
JF: Eine Gruppe von zehn Leuten, deren liebstes Spiel es ist, Leute anzupöbeln, zu schlagen und zu verletzen. Die Art von Leuten, die sich nur in der Gruppe stark fühlen, um dann anderen Schaden zuzufügen.

BODYSTYLER: Was wäre denn ein geeignetes Mittel, falls ihr mal eine Stinkbombe versehentlich abgeworfen hättet, um es wieder ungeschehen zu machen? Vielleicht ein betörendes After-Shave?
NICK: Macht man das denn versehentlich? Wenn dir wirklich mal eine Stinkbombe durch die Finger rutscht, bist du ein Trottel und verdienst es nicht, Teil des Stinkbomben-Kommandos zu sein!
JF: In diesem Fall könnte man aber auch versuchen, eine tolle Werbeagentur zu finden, die das als ganz besonders attraktiven Duft verkauft...

"Ein berühmter Sänger mit einem Schnurrbart sagte einmal: 'Ich bin eine musikalische Prostituierte' - also sind wir vielleicht die Electro-Bimbos, wenn es um's Holzhacken geht..."

BODYSTYLER: Wenn ihr die Wahl hättet: Depeche Mode oder Kraftwerk?
NICK: Kraftwerk! Aus Respekt vor den Senioren und Pionieren des Genres. Depeche Mode haben später aber einen ebenso wichtigen Teil zur elektronischen Musik beigetragen.
JF: Auch Kraftwerk. Auch aus besagten "Pionier"-Gründen. Ihr old-school-futuristischer Stil passt immer noch in die aktuelle Zeit und ist nicht gealtert. Ich mag Depeche Mode natürlich auch, aber nicht ihre gesamte Diskographie. Von den zwei Kriegsmaschinen ist Kraftwerk einfach die effektivere.

BODYSTYLER: Renault oder Peugot?
NICK: Renault 12 mit Pelzbezug auf dem Lenkrad, der Starsky und Hutch-Flamme auf dem Spoiler und dem Wackel-Dackel auf der Hutablage.
JF: Peugot 504, das Familien-Modell in brauner Farbe und orangefarbener Tür.

BODYSTYLER: Analog oder digital?
JF: Das ist eine schwere Frage, da die Grenze zwischen beiden gar nicht mehr so deutlich erkennbar ist. Einerseits müsste ich zwar 'digital' sagen, da ich nicht einen einzigen analogen Synthie besitze, aber andererseits benutze ich perfekt klingende Analog-Emulatoren. Vielleicht kann man das gar nicht mehr trennen und beide Stile zu mischen macht eigentlich auch viel zu viel Spaß.
NICK: Ich sage DIGILOG oder ANATAL, da ich es nie als einen Konflikt empfunden habe, beide - gleichzeitig oder getrennt - zu benutzen.

BODYSTYLER: Twice A Man oder The Neon Judgement?
NICK: Definitiv Neon Judgement. Twice A Man sind schon gut, aber Neon Judgement einfach überragend. Sie haben mich durch meine Jugendzeit begleitet, weswegen es vielleicht aber auch eine sentimentale Entscheidung ist.
JF: Ich kann mich echt nicht entscheiden. Ich liebe beide, sorry...