!distain

Synth-Pop-Archäologen

15.12.2013 - Das Synth-Pop-Trio !distain schüttet bereits seit September ein Füllhorn voll mit klanglich aufpolierten Re-Releases über seinen Fans aus und spart dabei nicht mit exklusiven und spannenden Bonustracks. Da ein Ende vorerst nicht abzusehen ist, scheint ein Zwischenfazit angemessen, das sich den Alben und Singles widmet, die ursprünglich in den Jahren 2003 bis 2008 das Licht der Welt erblickten. Von: Torsten Pape

Image Pause auf dem Treppenabsatz, Zeit für ein Fazit (Foto: Trigger-Zone)

2013

BODYSTYLER: Wo darf man den Ursprung für dieses wahre Mammut-Projekt aus Re-Releases und Archivausgrabungen suchen?

MANFRED THOMASER: Es sind gleich zwei Ursprünge. Die Archivausgrabungen stehen am Anfang des Projekts. Um 2010 herum habe ich begonnen, mein Ton-Archiv auszuwerten. Zunächst machte ich das nur für mich selbst, um einerseits Platz zu schaffen und andererseits um zu sehen, was alles mehr oder weniger unentdeckt geblieben war. Der Ursprung für die Re-Releases liegt darin begründet, dass die CD-Versionen von "Cement Garden", "Li:quid" und "Homesick Alien" weitgehend ausverkauft sind. Da die meisten Studio-Alben der Band bis zum Beginn der Special Edition Reihe in den Download-Shops nicht verfügbar waren, bot die Neuauflage die Möglichkeit, die Musik auch weiterhin und erstmals überhaupt über die Shops anzubieten. Die Auswertung des Archivs war zu diesem Zeitpunkt bereits so gut voran geschritten, dass es nahe lag, die Alben um die "Fundstücke aus dem Archiv" zu erweitern. So kamen beide Ideen zusammen.

BODYSTYLER: Was könnt ihr uns denn über euer Bandarchiv erzählen? Wie darf man sich das Sichten des Materials vorstellen und um welches Volumen handelte es sich genau?

MANFRED THOMASER: Bis zum Jahr 2010 haben sich allein bei mir über 500 CDs angesammelt, die zwischen 2002 und 2010 entstandene Aufnahmen enthalten. Teilweise waren die CDs gar nicht oder nur spärlich beschriftet worden. Eine CD mit einem Demo Song drauf ist schnell gebrannt und angehört. Ohne genaue Beschriftung weiß man Jahre später aber nicht mehr, was sie enthält. Und weil die Anzahl an CDs nicht kleiner wurde, nahm ich die Archivierung vor. Ich hörte mir jede CD an und übertrug die Aufnahmen auf Festplatte. Später kamen die DAT-Tapes und CDs hinzu, die mir aus der Zeit bis 2003 vorlagen. All diese Demos, Remixe, Song-Versionen etc. wertete ich dann aus. Anfang 2013 steuerte Alexander seine ganzen Tapes bei, was sich vor allem auf "Cement Garden" und "Li:quid" ausgewirkt hat.

ALEXANDER BRAUN: Ich musste mir doch tatsächlich einen DAT-Player ausleihen, weil ich schon lange keinen mehr besitze. Dadurch konnte ich die vielen alten DAT-Master aber auch Demo-Tapes „sichten“. Das war schon irgendwie wie eine Zeitreise und erstaunlich, wie düster ich damals gefühlt habe.

RICK PROKEIN: Da ich noch nicht so lange dabei bin, war es auch für mich eine Überraschung, wie viele gute Songs als Demo gelagert wurden. Für mich war es immer ein Highlight, wenn Manfred mir einen Demo-Song schickte und fragte, wie ich den denn finden würde.

BODYSTYLER: Ihr seid anscheinend eine Band, die sich eher selten (gar nicht?) von Demos und Alternativversionen trennt. Warum ist das so? Könnt ihr euch in andere Künstler hinein versetzen, die solche Dinge hemmungslos entsorgen?

ALEXANDER BRAUN: Ich versuch es mal so zu erklären: Ideen, die uns so gar nicht entsprechen oder uns nicht gefallen, werden erst gar nicht „zu Papier gebracht“, sprich in den Computer. Das heißt, alles, was wir kreieren, entspricht zu diesem Zeitpunk genau unserem Gefühl und Ausdruckswunsch. Es ist auf diese Weise eine Art Tagebuch der Gefühle und so gesehen, wer kommt schon auf die Idee alte Seiten seines Tagebuchs herauszureißen und wegzuwerfen?

RICK PROKEIN: Oft sind Songs doch Spiegelbilder der Seele und es braucht einfach auch Zeit, um das Spiegelbild klar und deutlich zu sehen, zu erkennen. Ich kann es mir nicht vorstellen etwas wegzuwerfen, denn vielleicht ist bei den Songs auch nur die Zeit noch nicht reif dafür. Daher hebe ich alle Songtexte, die ich je geschrieben habe, auf.

BODYSTYLER: Wie groß darf man sich denn den Haufen an Liedern vorstellen, die ihr nie im Leben der Öffentlichkeit zugänglich machen würdet? Welche Peinlichkeiten sind euch denn da so unter die Finger gekommen und was macht ihr damit? Doch entsorgen? Eurer Familie zu Weihnachten oder den Freunden beim Umtrunk vorspielen?

ALEXANDER BRAUN: Mir sind keine Songs peinlich. Das gehört irgendwie zum Entwicklungsprozess dazu. Immerhin haben alle Songs mich dahin gebracht, wo ich heute stehe. Wo Du Weihnachten erwähnst: Ich habe tatsächlich mal für meine Eltern eine Weihnachtskassette aufgenommen. Klingt irgendwie alles ziemlich düster (grinst), echt witzig, die heute zu hören!

RICK PROKEIN: Manchmal entstehen Songs aus einer Laune heraus. Sei es Frust, Ärger, Kummer oder aus Liebe. Wenn man in diesem „Rausch“ einen Song komponiert oder textet, sollte man erst nach ein paar Tagen entscheiden, was damit passiert. Und oft ist es dann besser, es niemanden vor zu spielen. (lacht)

BODYSTYLER: Was hat sich denn über die Jahre beim Aufnehmen von Demos bei euch verändert?

MANFRED THOMASER: In erster Linie die Technik. Anfangs stand noch ein Kassetten-Rekorder im Proberaum, später kam das Vierspurgerät hinzu, der DAT-Rekorder und dann natürlich der Computer. Das alleine steigerte die Ton-Qualität der Aufnahmen deutlich.

ALEXANDER BRAUN: Ja, genau. Allein diese enorme Entwicklung gibt dem ganzen Prozess heute eine gewisse Leichtigkeit und man kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Dadurch, dass die Technik einfach funktioniert und einem vieles abnimmt, spart man Zeit, die dann direkt für den kreativen Prozess zur Verfügung steht.

BODYSTYLER: Braucht es heutzutage mehr oder weniger Anläufe, um eine Version eines Songs zu erstellen, die reif für eine Veröffentlichung ist?

ALEXANDER BRAUN: Unsere Erfahrung mit Songwriting und Technik lässt uns heute schneller ans Ziel kommen als früher. Das schließt aber nicht aus, dass ein Song auch mal eine Weile liegen bleibt, bis er „vollendet“ wird.

RICK PROKEIN: Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal hat man die Idee und den Text in zwanzig Minuten fertig, manchmal aber auch in Monaten nicht.

BODYSTYLER: Im Rahmen der Re-Releases präsentiert ihr viele Instrumentalversionen eurer Stücke. Warum liegen euch diese speziell am Herzen? Wollt ihr sie am liebsten vollkommen losgelöst von den endgültigen Versionen gehört wissen oder habt ihr den Effekt, dass den Hörern der Text fehlen könnte bereits einkalkuliert?

MANFRED THOMASER: Instrumentals liegen mir u.a. am Herzen, da sie andere Bilder hervorrufen können als die Versionen mit Gesang. Ohne die Einbindung von Gesangsaufnahme und Text bieten die Stücke einfach zusätzlichen Freiraum. Und diesen Platz kann ein jeder für sich selbst füllen. Die Musik darf in diesem Zusammenhang durchaus losgelöst vom Text verstanden werden, muss es aber natürlich nicht. Wenn das Instrumental also jemandem nicht ausreichend erscheint, dann bleibt immer noch die Gesangsversion. Das muss ich einkalkulieren, aber beeinflussen kann ich es nicht.

ALEXANDER BRAUN: Ich gehe bei solchen Sachen meist von mir aus: Ich persönlich hab´ gern Instrumentalversionen von Songs, die ich gut finde. Ich kann sie dann noch von einer anderen Seite kennen lernen, Instrumente heraushören, die man sonst nicht hört oder vielleicht sogar selber dazu trällern (lacht)!

RICK PROKEIN: Was wären Filme ohne Musik? Mich erreichen Instrumentals oft viel schneller als Gesangsaufnahmen, da ich von den Texten so nicht „abgelenkt“ werde.

2003/2004

"Heute ist der Abstand groß genug..."

BODYSTYLER: Was könnt ihr denn zu den bis dato unveröffentlichten !distain Single-Mixen von "America" und "Sex'n'cross" erzählen? Warum wurden diese absolut frischen und dynamischen Versionen bis dato unter Verschluss gehalten?

MANFRED THOMASER: Die Version von "America" haben wir damals gar nicht so hochwertig eingeschätzt wie die Reaktionen darauf jetzt ausgefallen sind. Wir sind überrascht und freuen uns darüber. Wir konnten uns 2003 aber nicht vorstellen, dass der !distain Single-Mix mit z.B. dem Texas Mix würde mithalten können. Unsere Version von "Sex'n'Cross" war wie der Euromix für eine zweite "Sex'n'Cross" Single vorgesehen. Diese wurde aber nicht veröffentlicht.

ALEXANDER BRAUN: Die Selbstwahrnehmung ist ja immer ein großes Thema. Einzuschätzen, wie wir bzw. unsere Songs „draußen“ wahrgenommen werden, wird immer schwer sein. Wahrscheinlich sollte man sich als Band hier nicht zu viele Gedanken machen...

BODYSTYLER: Was waren damals eure Beweggründe den "Lovesong" wortlos, sprich instrumental zu veröffentlichen und warum gibt es diese Gründe heute nicht mehr?

MANFRED THOMASER: Mir persönlich gefiel das Instrumental besser. Und weil uns allen die Songs gefallen müssen, die auf ein Album kommen, landete die Instrumentalversion auf "25 frames a second". Beim Durchforsten des Archivs war aber klar, dass die Version mit Alexanders Text und Gesang hervorgeholt werden musste. Die Reaktionen darauf haben uns bestätigt.

ALEXANDER BRAUN: Damals war ich auch gar nicht böse, die Instrumentalversion zu nehmen, dann es ist ja schon auch ein sehr privater Text. Heute ist der Abstand dazu groß genug...

BODYSTYLER: "Space 09" ist für meinen Geschmack ein grandioser Track, aber ich finde ja auch die Solo-Werke von Thomas D toll... (lacht) Ist euch dieser Vergleich recht?

ALEXANDER BRAUN: Natürlich. Geht mir wie Dir, allerdings ist der Song damals nicht mit dieser Intention entstanden. Wie so oft fließt die Liebe zu bestimmten Bands mehr oder weniger unbewusst mit ein. Man probiert, improvisiert und dann kommt eben auch mal so eine Variante dabei heraus.

RICK PROKEIN: Ich höre privat auch die unterschiedlichsten Musikrichtungen. Also vergleiche… (lacht)

2008

"Im Nachhinein ist man ja immer schlauer..."

BODYSTYLER: Warum wurde die "Mandragore"-EP damals eigentlich nach dem zahlenmäßig schwächer vertretenen Song benannt? Anscheinend eine Tatsache, die euch im Nachhinein dann doch gestört hat...

MANFRED THOMASER: Gestört hat es uns nicht, aber für die Special Edition machte es Sinn, die Single "aufzuräumen". "the FLA" war in der Tat omnipräsent. "Mandragore" wurde 2008 trotz der bereits zusammen mit "Raise The Level" veröffentlichten "Mandragore EP" als Single heraus gebracht, weil die Resonanz so groß war. Zudem hatten wohl nur die Remixer von "the FLA" und wir diesen für uns eher untypischen Song auf der Liste möglicher Single-Kandidaten.

BODYSTYLER: Weshalb habt ihr damals nicht auch schon die Extended Version des Silica Gel Mixes veröffentlicht?

ALEXANDER BRAUN: Die Extended Version ist erst 2013 entstanden. Wir haben Alberto Palazon gebeten, zur Special Edition der Single eine weitere Version beizusteuern.

BODYSTYLER: Meines Erachtens hätte "the FLA" in der Version, die mit Rotersand entstanden ist, ein riesengroßer Clubhit werden können? Was hat dem eurer Meinung nach im Weg gestanden?

MANFRED THOMASER: Schwer zu sagen. Es gab zur Single eine Club-Promotion. "Mandragore" ging bis auf Position 9 der DAC. Ob "the FLA" übersehen wurde, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht hat der Version, wie schon gesagt, kaum jemand die Bedeutung beigemessen, die sie jetzt nach Veröffentlichung der Special Edition erhält.

ALEXANDER BRAUN: Vielleicht hätten wir eine eigene Single dazu machen müssen mit einer eigenen Club-Promo. Aber im Nachhinein ist man ja immer schlauer...

RICK PROKEIN: Ich kenne einige Songs die bei der Erstveröffentlichung kein Erfolg waren. Sie brauchten auch mehrere Anläufe. Vielleicht wird er ja jetzt der „Geheim-Clubhit“ (lacht).