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Boytronic "Jewel"

Die Line-Up-Historie von Boytronic vorab kurz im Überblick, und soweit sie für mich recherchierbar war, d.h. vollständig ist sie nicht:
1983 - 1986 Holger Wobker, Peter Sawatzki
1987 - 1992 Mark Wade, Hayo Lewerentz (alias Hayo Panarinfo)
2002 - 2005 Holger Wobker, Hayo Lewerentz
2006 Holger Wobker, Hans Johm, Michael Maria Ziffels
2017 Hayo Lewerentz, Ingo Hauss, James Knights

Ingo Nordloh von Elmodic meinte in einem Gespräch, man müsse Boytronic mehr als ein Projekt denn eine Band im traditionellen Sinne verstehen. Womit er sicherlich Recht hat, ansonsten lässt sich Boytronic weder begreifen noch nachvollziehen. Zu unterschiedlich sind die Veröffentlichungen der einzelnen Besetzungen. Eines dürfte wissenschaftlich dabei nicht zu widerlegen sein: Die Kombination Wobker & Sawatzki sorgte zwischen 1983 und 1986 für jenes Fundament, welches die nachfolgenden Line-ups erst möglich machte. Der SynthPop Klassiker "You" fuhr als erste Single-Auskopplung des Albums "The Working Model" einen damals völlig logischen Chart-Erfolg ein: Platz 10 in den Media Control Charts. Elektronische Pop Musik war angesagt wie Schnee im Skigebiet notwendig ist. Die Qualität des Debüt-Longplayers ist bis heute nicht anzuzweifeln. Dies gilt nicht weniger für das 1985 nachfolgende Album "The Continental". Um die dritte Scheibe in Originalbesetzung gibt es zahlreiche Gerüchte, veröffentlicht wurde sie nicht. Wobker verließ Boytronic. Die Band schien Geschichte, bis die Plattenfirma, die die Rechte am Bandnamen hielt, Phase II in die Arena warf. Neue Gesichter, neue Musik und eine Fortsetzung der Story.

2017 kehren Boytronic mit Ideen des SynthPops zurück, der sie zu Beginn ihrer Karriere ins Rampenlicht schoss. Von 1983 ist aktuell niemand mehr dabei, was vor allem Fans von Holger Wobkers Stimme nicht so geil finden werden, James Knights aber sollte man eine Chance geben. Er ist der neue Frontmann, "Jewel" das neue Album. Die meisten der elf Songs des Longplayers schwingen sich ins Ohr. Die Energie des Openers "Time After Midnight" gibt die Richtung vor. Druckvolle Bässe, klare Beats, feine Melodien. Am puren SynthPop hat sich so viel nicht geändert, sieht man mal davon ab, dass die Technik heute schlichtweg alles kraftvoller erscheinen lässt? Hinzu gesellt sich James Knight, dessen Stimme sich auf energiegeladene Töne versteht, fragilen Melodien aber immer wieder den Vorrang einräumt. Dies verdeutlicht nach "Time After Midnight" das vielleicht beste Stück auf "Jewel": "The Universe". Wie auf dem gesamten Album ziehen die besten Atmosphären der 1980er durch den Raum, schwebt der Refrain zum Mitsingen Nanometer über der Zunge, während die Synth-Flächen, Bässe und Drums einem das Gefühl geben, man könnte die Rückkehr des Kalten Kriegs mit einem einzigen Lied verhindern. Das hier ist nichts für Techno-Fanatiker, nichts für Industrial-Sklaven und absolut nichts für Indie-Zöglinge. Auf "Jewel" haucht Pop-Musik Kerzenlicht tanzendes Leben ein. Das klingt aus irgendeinem Grund immer ein bisschen wie Regenbogenfarben. Warum auch nicht?

Weiter geht es mit "Share", das sich fragt, wie es dazu kommen konnte, dass sich industrialisierte Menschen beim Vernetzen vor allem gegenseitig mit Photos und Gedanken zum Tag "bewerfen". Musikalisch kommt der Track in Leder daher, öffnet die Tür zum Darkroom und blickt verschüchtert um sich, Gefallen findend an den Rhythmen und tiefen Tönen, die sich im Spiel der Leidenschaften gegen die Wände drücken. Deutlich herunter im Druck fährt die Wiederbelebung eines Boytronic Klassikers aus dem Debüt-Album: "My Baby Lost Its Way". Spätestens hier lässt sich das Fehlen Holger Wobkers nicht verheimlichen. Seine Stimme prägte die frühen Jahre Boytronics derart, dass das neue "My Baby Lost Its Way" wie eine gut gemachte Cover-Version erscheint. Mehr leider nicht. Das nachfolgende Titelstück gehört wie "The Universe" zu den Highlights des neuen Boytronic Albums. Nachdenklich in den Beats, sphärig in den Sequenzen, etwas verloren in den Vocals. Hier wird eine Tiefe erreicht, die den auf Pop getrimmten Kompositionen abgeht. Keine Wunder, denn das eine geht mit dem anderen oftmals einher. Ich muss gestehen, nach "Jewel" und dem sich anschließenden "Dark Passion" verliere ich den Faden. "Free To Love", "Big Hands For Dreamers" und "Disco City" rauschen emotional an mir vorbei. Da bleibt nichts hängen. Die Interpretation des U2 Klassikers "New Year's Day" als abschließendem Track funktioniert live sehr viel besser als auf Datenträger.

Fazit: Boytronic sind zurück in neuer Besetzung. "Jewel" bietet modern produzierten klassischen SynthPop. Von "My Baby Lost Its Way" abgesehen, überzeugen die ersten sieben Songs mit guten Melodien und Arrangements, bevor mir die Scheibe unter den Füßen weg bricht. Das ist nicht weiter schlimm, was heißt: SynthPop Fans sollten in "Jewel" hinein hören. Es sind ausreichend Diamanten zu entdecken, auch wenn ich leider nur vier Punkte vergeben kann. (Manfred Thomaser)

Label Oblivion | 03.11.2017 | Homepage www.facebook.com/boytronicmusic/

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