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Kirlian Camera "Cold pills (Scarlet gate of toxic daybreak)"

Betrachtet man sich die gesamte Diskographie der italienischen Band Kirlian Camera so erkennt man drei herausragende Eckpunkte. Zum einen wären da die düster-poppigen Kompositionen mit ihren oft vollmundigen Melodien. Zum anderen gab es stets ätherische Tracks zwischen Neo-Folk und fragiler Ambient-Atmosphäre. Beide wurden durch weiblichen Gesang dominiert, aber auch männliche Parts spielten ein prägende Rolle. Nicht vergessen darf man die experimentellen, teils atonalen oder auch noisigen Stücke, die gleichzeitig für Ausgeglichenheit und Unruhe sorgen konnten. Mit dem neuen Doppel-Album befindet sich die Kult-Formation nun ziemlich genau in der Schnittmenge der genannten Stilistiken. Der auf dem Vorgänger dominierende samtige bis tanzbare Charakter wurde etwas zurückgefahren und der gewonnene Platz durch kühlere, sprödere Sounds eingenommen. Im ersten, über achtminütigem Stück „The illusory guest“ beweist Sängerin Elena, dass sie ihre Stimme variantenreich einzusetzen versteht, denn das Spektrum reicht von opernhaften Momenten bis in raue Tiefen, von schmeichelnder Sanftheit bis hin zu glasklarer Präsenz. Wenig später überrascht „Cold pills“ mit verschwurbelter und hypnotischer Intensität und „I became Alice“ mit einer kratzigen Gitarre, die sich an einer trockenen Schlagzeugbearbeitung und dem teils rauchig-wütenden Gesang reibt. „Not true“ wartet hingegen mit sphärischem Geknister, lustigen (Stimm-)Effekten und stolpernder Rhythmik auf bevor mit „Crystal morn“ die erste richtige Hymne ausgepackt wird. Nach der Avantgarde-EBM-Nummer „Lobotomine“ und den Klavierklängen von „Randonists and sleepers“ beschließt die majestätische, teils bedrohlich wirkende Vorab-Single „The 8th president“ den ersten Teil des Werkes.
Der Start in die zweite Albumhälfte könnte danach nicht hymnischer ausfallen, denn „Dreamlex“ schwingt sich nach piepsig-knarzigem Beginn in immer größere Höhen auf. In „Dusk religion“ werden danach Myriaden von Sounds und Instrumenten aufgefahren: organische Drums, Streicher- und Orgelklänge, wabernde Elektronik, Stimm-Samples etc. bevor „LSDay“ mit einer an Dive erinnernden Ästhetik aufwartet. Nun folgt „Phoenix Aliena“, die B-Seite der Vorab-Single (hier mit englischem statt italienischem Text), die im Grunde einen der größten Hits von „Cold pills“ darstellt. Der kindliche Gesang in „Apophenia“ und das unheimliche Instrumental „Blue drug“ könnten im Anschluss für keinen größeren Kontrast sorgen. Mit dem betörenden „Lux industries MMXX“ sowie dem schönen, an den „Twin Peaks“-Soundtrack erinnernden Song „Twin pills“ steuert dieses vielschichtige Meisterwerk nach fast 100 Minuten seinem Ende entgegen. Beeindruckend. (Torsten Pape)

Label Dependent | 14.05.2021 | Homepage www.kirliancamera.com

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