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Solar Fake "Enjoy Dystopia"

Mit dem Titel ihres mittlerweile sechsten Studioalbums begrüßt die Electro-Formation um Sven Friedrich den Hörer auf eine offensichtlich mehrdeutige Art. Es könnte eine freundliche Einladung sein, wäre da nicht das Wort „Dystopie“, der für Solar Fake so typischen Faktor „Wut“ oder das dunkle, wenn auch mit einem Hoffnungsschimmer versetzte Covermotiv. Bereit für für den Ausflug nach Dystopia? Bitte anschnallen!

Mit den ersten Tönen von „At least we‘ll forget“ beginnt auch prompt der Ritt auf der akustischen Achterbahn. Zunächst geht es musikalisch steil in die Höhe, um dann in einer Mischung aus Future-Pop und Hellectro geradezu zu explodieren. Das sollte wirklich jeden eingefleischten Fan im Handumdrehen abholen. „I despise you“ nimmt im Anschluss den Schwung problemlos auf, wobei Svens begnadete Stimme hier zumeist unverzerrt erklingt. Mit „This pretty life“ folgt danach der dritte, aber in diesem Fall bereits von der Vorab-Single bekannte Ohrwurm. Die spannenden Sounds und Melodieführungen können auch nach wiederholtem Genuss glänzen und der Song dürfte somit langfristig zum Kult-Hit avancieren. Im Anschluss ist es Zeit für einen recht geradlinigen, tanzbaren und sehnsuchtsvollen Track. „Arrive somewhere“ setzt zudem auf Pianoklänge sowie später elegische bis jubilierende Synthies. Zu sicher sollte sich der Hörer in diesen schönen Gewässern jedoch nicht fühlen, denn der Übergang zum harschen „Es geht dich nichts an“ kommt einem Sturz über einen reißenden Wasserfall gleich. Das Wut-Level erreicht schlagartig ein erstes Maximum und die Wucht der Worte richtet sich gegen all jene, die mit gut gemeinten, aber wenig empathischen Worten psychisch Erkrankten oft mehr schaden als helfen. Eine absolut gelungene Premiere der deutschen Sprache im Solar Fake-Universum, denn die scharfe Pfeilspitze trifft punktgenau und effektiv. Nun folgt die zweite (Video-)Single „It‘s who you are“ mit ihrer Mischung aus anspruchsvollen Rhythmuswechseln und besonders eingängigen Melodien, die ein wenig an die mittleren Apoptygma Berzerk denken lassen. Die ersten Klänge von „Trying too hard“ nehmen den Apop-Faden zunächst gekonnt auf („Soli deo Gloria“-/“7“-Phase) bevor sich daraus die nächste Energieentladung im typischen SF-Stil herausschält. Das klingt nach purer Verachtung, die durch ein sanftes Piano-Break sogar noch mehr Durchschlagskraft verliehen bekommt. Nun ist das Album endgültig in Fahrt gekommen und nicht mehr aufzuhalten. „Implode“ stampft unerbittlich nach vorn und bietet im Refrain eine Gesangslinie, die alle Zeraphine-Fans wehmütig werden lassen dürfte, genau wie das traurige und doch mit einem Lichtschein versetzte „Just leave it“. Dieser absolut emotionale Song kann nur noch durch einen traditionell epischen Abschluss übertroffen werden und das getragene und doch kraftvolle „Wish myself away“ erfüllt die hohen Erwartungen vollkommen.

Wer die Deluxe-Variante von „Enjoy dystopia“ erworben hat, dem eröffnet sich auf der zweiten Disk ein gewohnt umfangreicher Bonuspart. War auf den ersten drei Alben noch je ein Coversong Teil des Hauptprogramms, so ist es mittlerweile Usus geworden, dass man zwei tolle Interpretationen an dieser Stelle präsentiert. Den Anfang macht „Join me in death“ von HIM und die poppig-elektronische Version macht im besten Sinne Spaß. Stimmlich passt das natürlich optimal, was angesichts des nächsten Originals zunächst nicht so auf der Hand zu liegen scheint. „Where is my mind?“ von den Pixies ist nämlich deutlich weiter entfernt vom SF-Kosmos, aber auch diese Variation wird mit Bravour abgeliefert. Danach hat man erneut ein amtliches Remix-Paket geschnürt und allein die Auflistung der beteiligten Bands garantiert zumindest Abwechslung. Wie zum Beweis zünden Faelder sofort eine amtliche Gitarrenladung, was „Es geht dich nichts an“ bestens steht und den Song mühelos in NDH-Regionen verankert. „Implode“ wird danach gründlich blutengeliert, was das neue Wort für „mit schwarzem Bombast-Zuckerguss überzogen“ werden sollte. Die Berliner Kollegen von Solitary Experiments agieren danach bei „Arrive somewhere“ gewohnt tanzbar bzw. geradlinig und Iris injizieren „This pretty life“ erfolgreich ihren samtigen Charme. Massive Ego orientieren sich bei ihrer „I despise you“-Bearbeitung an Laibach-Charakteristiken, was überraschend gut funktioniert und Dunkelsucht betonen das Future-Pop-Element von „Trying too hard“ noch ein Stückchen mehr. Danach geht es noch konsequenter in Richtung Tanzfläche, denn Blood & Tears toben sich an „At least we‘ll forget“ aus, das vor so viel Techno/Schranz kaum mehr zu erkennen ist. Anders minmal, nämlich eher analog reduziert klingt danach der tolle Random Starlight Remix von „It‘s who you are“. Kennt noch jemand den Apop-Ableger Fairlight Children? Wäre hier eine mögliche Referenz. Nun stellt sich die Frage was ein Vintage Remix von NAN aus „I despise you“ gemacht haben könnte? In diesem Fall bedeutet es die Rückkehr der Gitarren, die mit einem recht trockenen Rhythmusgerüst kombiniert werden - durchaus mutig und spannend. Im Anschluss dürfen Anja & Alex an die Regler und verpassen „At least we‘ll forget“ ein stampfend technoides Gewand, welches auch auf einer „Dream Dance“-Compilation bestehen könnte. Danach knirscht es noch mal ordentlich im Gebälk, wenn sich die Ost+Front ihren Weg bahnt. „It‘s who you are“ klingt plötzlich recht martialisch, ohne dass eine einzige Gitarre im Spiel ist. An die Kombination des Gesangstempos mit dem stoischen Beat muss sich das Ohr zwar erst einmal gewöhnen, aber hier will sowieso niemand nur gewöhnliche Versionen, oder? Den Ausklang dieses stattlichen Bonusprogramms bildet „Just leave it“ in einer herzerweichenden Piano-Version aus dem Hause Lord Of The Lost, die so auch ein Album der Dreadful Shadows hätte bereichern können. Wahnsinn!

Wer in den letzten Jahren die Ausflüge Solar Fakes in rein akustische Regionen lieben gelernt hat, wird wohl nicht am Erwerb der Fan-Box vorbeikommen, die neben diversen Devotionalen (Handyhalter, Armband, Geldbörse, Bandfoto) ein dritter Silberling namens „Masked“ beiliegt. Hier finden sich erneut sieben Albumtracks in wunderschönen und liebevoll umarrangierten Piano- bzw. Acoustic-Versionen. Sanft verschmilzt das gefühlvolle Spiel von Dirk Riegner am Klavier mit Svens dunklem Timbre. Angelehnt an die Auftritte als komplette Band kommen dieses Mal sogar perlende Gitarren, ein sanfter Bass und ein leichtfüßiges Schlagwerk hinzu. Den Höhepunkt stellt aber eindeutig die dramatische und mit Orchesterklängen überschäumende In Wonderland-Version von „Implode“ dar. Absolute Gänsehautgarantie!

Fazit: Erneut haben Sven Friedrich und seine Mitstreiter ein Album erschaffen, welches durch einen mitreißenden, abwechslungsreichen Spannungsbogen sowie viele tolle Melodien begeistern kann. Durch das Bonusmaterial wird dieser Eindruck zusätzlich aufgewertet. (Torsten Pape)

Label Out Of Line | 12.02.2021 | Homepage www.solarfake.de

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